Totenwache - Thriller
mich von allen rechtsmedizinisch relevanten Obduktionen ausschließen?«
»Ich verbitte mir diesen Ton. Wie ich Sie hier einsetze, das entscheide ich ganz allein«, brüllte Lassiter. »Sie scheinen zu glauben, dass Vorträge an der Medizinischen Fakultät
der Universität Pittsburgh und Auftritte an Schulen unter Ihrem Niveau sind - doch da täuschen Sie sich, Ms. McKay. Und solange ich Ihr Vorgesetzter bin, bestimme ich, was Sie zu tun haben. Ist das klar? Vielleicht begreifen Sie ja irgendwann einmal, dass ein forensischer Pathologe mehr können muss als Leichen sezieren. Etwas mehr Bescheidenheit würden Ihnen gut anstehen.«
Riley biss sich auf die Unterlippe. Absurd, dass ausgerechnet dieser aufgeblasene Idiot ihr einen Vortrag über Bescheidenheit hielt. Sie schluckte ihren Zorn hinunter und schwieg. Schließlich war Lassiter einer der leitenden Pathologen des Instituts und dazu noch Mitglied der Institutsleitung. Falls sie dort je eine feste Anstellung bekommen wollte, blieb ihr gar nichts anderes übrig, als den Mund zu halten. Was sie nicht daran hinderte, sich Lassiter auf dem Rücken vor ihr auf dem kalten Metall des Obduktionstisches liegend vorzustellen. Dann malte sie sich aus, wie sie an ihm den klassischen Y-förmigen Schnitt ausführte - von den Schlüsselbeinen zum Brustbein und von dort geradewegs durch die Bauchdecke nach unten.
»Ich glaube, wir wissen jetzt beide, was wir heute früh zu tun haben«, sagte Lassiter. »Je eher Sie sich auf den Weg machen, um Ihren Job zu erledigen, umso früher kann ich mich meinen Pflichten widmen - es sei denn, Sie haben noch Einwände?«
Riley führte mit dem Skalpell gerade einen kreisförmigen Schnitt um den Schädel des Mannes. Dann nahm sie die Säge, entfernte das Schädeldach und sah … nichts.
»Dann gehen Sie jetzt«, sagte Lassiter. »Wir können hier schließlich nicht den ganzen Tag verplempern.«
Riley benetzte die Unterlippe mit der Zunge - und schmeckte Blut.
Sie drehte sich um, eilte den Gang entlang und die Treppe
hinauf, ohne das »Guten Morgen« des stellvertretenden Institutsleiters zu erwidern. Ihr Ziel war ihr winziges Büro im zweiten Stock, wo sie nur noch schnell ihren Laborkittel ausziehen und ihre Handtasche holen wollte. Unterwegs kam sie an Lassiters geöffneter Bürotür vorbei.
Sie blieb stehen und blickte vorsichtig über die Schulter zurück. Niemand. Die Autopsie musste in den nächsten Minuten beginnen. Lassiter war also mindestens zwei Stunden beschäftigt - falls er etwas Auffälliges entdeckte, sogar drei oder vier. Sie spähte in das Großraumbüro nebenan. Oberhalb der Boxenwände waren ein paar Haarschöpfe zu erkennen. Doch niemand blickte in ihre Richtung; niemand nahm von ihr Notiz.
Sie trat schnell in Lassiters Büro und schloss leise die Tür hinter sich.
Innen lehnte sie sich erst einmal gegen die Tür und sah sich in dem Büro um. Ihre Wut war plötzlich in eine Art Übermut umgeschlagen. Sie kam sich vor wie ein Teenager, der etwas Verbotenes tut. Aber das, worauf sie sich da gerade eingelassen hatte, war kein Teenagerstreich - nein, das war bitterer Ernst. In ihrer Wut war sie dem erstbesten Impuls gefolgt. Doch als sie jetzt in Lassiters Büro stand, wusste sie nicht einmal genau, wonach sie eigentlich suchte. Los, beeil dich, feuerte sie sich an. Ihr Übermut war inzwischen beklommener Angst gewichen.
Plötzlich fiel es ihr wieder ein. Ach ja: die Autopsiediktate .
Wenn die Pathologen des Instituts eine Autopsie durchführten, hatten sie stets ein Headset-Mikrofon auf und diktierten alles, was ihnen gerade auffiel, in ein digitales Aufnahmegerät. Diese Aufzeichnungen dienten später bei der Abfassung des Abschlussberichts als Erinnerungsstütze. Allerdings war eine solche Aufzeichnung keineswegs ein
systematisches Diktat, vielmehr dokumentierte sie alles, was der Pathologe während der Obduktion - zum Teil auch unbewusst - von sich gab. Riley hatte schon erlebt, dass in solchen Aufzeichnungen Bemerkungen über die Attraktivität, den ethnischen Status oder sogar über die Schuld oder Unschuld der sezierten Leiche zu hören waren - Kommentare, die sich hinterher in keinem Schriftstück mehr finden ließen. Denkbar, dass Lassiter bei einer dieser zweistündigen Autopsien etwas von sich gegeben hatte, was irgendwelche Rückschlüsse gestattete. Vielleicht enthielt ja eines seiner Diktate einen Hinweis auf unerlaubte Aktivitäten - Anmerkungen, die in seinen Abschlussberichten nicht mehr
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