Totenwache - Thriller
auftauchten.
Riley ging um den Schreibtisch herum und setzte sich an Lassiters Computer. Sie wusste, dass die digitalen Aufzeichnungen auf dem Rechner des Pathologen gespeichert waren. Dort konnte er sich die Aufzeichnungen entweder anhören oder die Dateien per E-Mail an ein Büro schicken, das die gesprochenen Texte transkribierte. Auf dem Monitor war als Bildschirmschoner die Abbildung eines kirschroten Dodge Viper installiert. Riley bewegte die Maus. Das Bild verschwand, und der Windows-Desktop erschien. Sie überflog rasch Dutzende von Icons und suchte nach dem Ordner mit den mündlichen Obduktionsberichten.
Dann wurde plötzlich der Türknopf betätigt.
Riley konnte gerade noch aufspringen, bevor die Tür ganz aufging. Dann stand auch schon Nathan Lassiter vor ihr und blickte ihr ausdruckslos entgegen.
»Kann ich etwas für Sie tun?«
Rileys Gehirn wurde buchstäblich mit Adrenalin überschwemmt. Ihr schossen tausend lahme Ausreden und lachhafte Erklärungen durch den Kopf. Doch die rettende Idee war nicht dabei. Und so stand sie schuldbewusst wie ein
kleines Mädchen, das etwas ausgefressen hat, völlig ratlos vor ihrem Chef.
Am Rand ihres Blickfeldes war der Computerbildschirm gerade noch zu erkennen, und beinahe hätte sie laut nach Luft geschnappt. Immer noch der verdammte Desktop.
Lassiter kam auf sie zu. Riley ging ihm entgegen und versperrte ihm den Weg hinter seinen Schreibtisch.
»Ich bin bloß in Ihr Büro gegangen … weil ich Ihnen eine Notiz hinterlassen wollte«, stammelte sie.
»Die hätten Sie doch genauso gut bei meiner Sekretärin hinterlegen können.« Wieder kam er einen Schritt näher. Riley rückte so weit vor, dass sie den Bildschirm gerade noch erkennen konnte.
»Eine … persönliche Sache«, sagte sie.
Lassiters Interesse schien geweckt. »Ach ja?«
»Ich, also ich … wollte mich bei Ihnen entschuldigen.« Sie stand jetzt direkt vor ihm. Eine andere Möglichkeit, ihm den Blick auf den Bildschirm zu verwehren, gab es nicht.
»Nun, hier bin ich. Was haben Sie mir zu sagen?«
Riley wand sich. »Ich wollte Ihnen nur sagen … dass es mir leidtut.«
»Was tut Ihnen leid?«
»Mein … mein Auftritt vorhin.« Riley spürte, wie sich ihr der Magen umdrehte. Sie hatte das Gefühl, sich jeden Augenblick erbrechen zu müssen, würgte jedes einzelne Wort hervor. »Sie sind mein Vorgesetzter, und ich habe mich … Ihnen gegenüber respektlos verhalten.« Sie warf einen Blick auf den Monitor und überlegte: Wie lange dauert es eigentlich, bis der verdammte Bildschirmschoner wieder erscheint? Eine Minute? Sie kam sich absolut lächerlich vor, konnte ihre Unterwürfigkeit kaum noch ertragen. Eines hatte sie immerhin erreicht: Lassiter war ganz Ohr, konnte von ihren Selbstvorwürfen gar nicht genug bekommen.
»Na gut«, sagte er gönnerhaft, »ich nehme Ihre Entschuldigung an. Manche Leute brauchen nun mal etwas länger, bis sie bestimmte Zusammenhänge durchschauen - Erfahrung ist eben durch nichts zu ersetzen.« Er legte ihr seine eiskalte Hand auf die Schulter. Was für eine Leichenklaue, dachte sie - aber was soll man bei dem Beruf auch anderes erwarten? Dann sah sie aus den Augenwinkeln, wie der Bildschirm kurz aufflackerte. Kurz darauf erschien statt des blauen Hintergrunds wieder das kirschrote Auto. Riley war überglücklich. Trotzdem wusste sie nicht recht, wie sie die unangenehme Situation am besten beenden sollte.
»Okay«, sagte sie schließlich abrupt. »Ich muss jetzt unbedingt los.« Sie wand sich unter Lassiters Arm hindurch und ging einfach aus dem Raum, ohne sich ein weiteres Mal umzublicken. Sie machte noch einen kurzen Zwischenstopp in ihrem Büro, hängte den Laborkittel dort an den Haken und schnappte sich ihre Handtasche. Dann verließ sie fluchtartig das Institutsgebäude und verspürte nur noch Sehnsucht nach einem Ort, wo sie ihrer Wut freien Lauf lassen konnte.
9. Kapitel
Jemand klopfte von außen an die Brandschutztür des Institutsgebäudes, die auf den Parkplatz hinausführte. Riley ging eilig durch den Obduktionsraum und drückte die Tür auf. Draußen stand Nick Polchak - den Rucksack lässig über die Schulter gehängt - und sah sie ausdruckslos an.
»Nick, wieso kommen Sie denn erst jetzt? Ich habe Sie doch schon vor einer halben Stunde angerufen?«
»Die Fahrt hierher dauert nun mal eine halbe Stunde«, erwiderte er.
»Aber Sie haben doch gesagt, dass Sie jederzeit ›abrufbereit‹ sind.«
»Offenbar glauben Sie, dass ich den ganzen Tag wie
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