Totenwache - Thriller
Kapitel
»Guten Morgen, Dr. McKay.«
Nathan Lassiter hatte seinen meergrünen OP-Mantel bereits angezogen, weil er gleich mit den Autopsien beginnen wollte, die an diesem Morgen anstanden. Im Rechtsmedizinischen Institut von Allegheny County wurden im Schnitt zwei bis drei Obduktionen am Tag durchgeführt - und zwar rund ums Jahr. Wenn alles gut lief, würde das Team bis zur Mittagspause fertig sein. Nachmittags konnten sich Lassiter und seine Mitarbeiter dann mit den Biopsien befassen und schon mal mit den Autopsieberichten anfangen. Riley sah auf die Uhr - fast halb zehn. Sie war bereits eine Stunde im Haus, hatte alles vorbereitet und mit den Autopsietechnikern und -assistenten auch schon die Termine abgeklärt. Allerdings wusste sie, dass Lassiter ihren Zeitplan ohnehin kippen würde. Trotzdem ärgerte sie sich jedes Mal wieder über seine Unverschämtheit.
»Guten Morgen, Dr. Lassiter«, sagte sie. »Ich habe mir schon mal angeschaut, was heute so ansteht. Insgesamt drei Fälle: Zum einen ein ertrunkenes vier Jahre altes Mädchen aus der Gegend von Pittsburgh - eine traurige Geschichte.«
»Wasserleichen interessieren mich nicht«, sagte Lassiter. »Den Fall können Sie übernehmen. Und was gibt’s sonst noch?«
Riley sah ihn an. Lassiter war fünfzehn Jahre älter als sie. Die Haartönung, die er verwendete, war ein paar Nuancen zu intensiv - ein leuchtendes Kastanienbraun, das mit seinem
hellen Teint unangenehm kontrastierte. Das Gewebe unten an seinem Kinn und am Hals zeigte bereits erste Ermüdungserscheinungen, und an seinen Schläfen hatten sich mehrere braune Leberflecken gebildet. Wie so viele Männer in mittleren Jahren war er unvorteilhaft gekleidet und aus weiblicher Sicht eine absolute Nullnummer. »Dann haben wir noch einen perioperativen Todesfall aus dem Allegheny General«, sagte sie, »und ein Gewaltopfer - Kopfschuss von hinten. Mit dem Fall sollten wir uns wahrscheinlich zuerst befassen.«
»Um den Erschossenen kümmere ich mich selbst«, sagte er. »Sie halten heute an der Medizinischen Fakultät der Universität einen Vortrag.«
»Was? Wieso?«
»Sie werden den Studenten dort erklären, wie man eine Sterbeurkunde richtig ausfüllt.«
Riley knallte ihr Klemmbrett auf den Rezeptionstisch. »Soll das ein Witz sein?«
»Nein, ganz und gar nicht. Die Studenten lernen nun mal an der Uni nichts darüber, wie man ein solches Dokument ordnungsgemäß ausfüllt. Sie glauben ja gar nicht, was für einen Müll wir hier immer wieder auf den Tisch bekommen: Diagnosen, die nicht in der angemessenen Fachterminologie abgefasst sind, unklare Angaben zur Todesursache - das ist ein echtes Problem.«
»Dr. Lassiter, das könnte doch genauso gut eine von den Hilfskräften …«
»Kommt nicht in Frage«, sagte Lassiter. »Ich selbst habe dort früher auch schon Vorträge zu dem Thema gehalten - und die anderen Pathologen hier am Haus genauso. Warum erwarten Sie eine Vorzugsbehandlung?«
»Das ist doch lächerlich. In meinem Vertrag steht schwarz auf weiß, dass ich während meiner wissenschaftlichen Ausbildung
an zweihundertfünfzig Obduktionen teilnehmen muss.«
»Ihr Vertrag schreibt vor, dass Sie sich mit allen Aufgaben vertraut machen, die an unserem Institut anfallen. - Spurensicherung, Toxikologie, Ballistik und so weiter -, und außerdem noch gewisse Lehrverpflichtungen wahrzunehmen haben.«
»Hören Sie, Dr. Lassiter. Seit ich hier bin, habe ich schon hundert Patienten obduziert - reine Routinefälle. Heute haben wir erstmals seit längerem wieder ein Gewaltopfer. Und um solche Fälle kennen zu lernen, bin ich schließlich hier.«
»Sie sind hier, um sich mit der ganzen Bandbreite unserer Aktivitäten vertraut zu machen.«
»Ich habe eine fünfjährige Facharztausbildung in anatomischer und klinischer Pathologie hinter mir und mich außerdem eingehend mit Fragen der Nierenpathologie befasst. Und da schicken Sie mich auf Erledigungsgänge, die jedes Schulmädchen genauso gut machen könnte. Was bezwecken Sie eigentlich damit?«
»Sie haben völlig recht. Hier bei uns haben Sie den Status eines Schulmädchens - es sei denn, Sie möchten sich mit Ihrer Facharztausbildung gerne einen netten Job in einem Kliniklabor suchen. Sie sind Pathologin, Dr. McKay, und nicht etwa Forensikerin . Und daran wird sich auch so lange nichts ändern, wie Sie hier bei uns in der Ausbildung sind.«
»Aber mir geht es doch gerade um meine Ausbildung. Wie soll ich denn forensische Erfahrungen sammeln, wenn Sie
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