Totenwache - Thriller
über das Schleusentor auf den Fluss weiter unten. Ob es noch ein Zurück gibt? Was für eine absurde Frage, dachte er. So etwas konnte einem auch nur einfallen, wenn man in einer dunklen Schleuse ins schwarze Wasser starrte. Er schob den Gedanken beiseite. Für ihn gab es ohnehin nur den Vorwärtsgang. Tucker Truett war nicht der Mann, der zurückblickte.
Der Wasserspiegel hatte jetzt das Niveau des Oberwassers erreicht, und die schwarz-gelben Tore öffneten sich langsam zum Fluss hin. Truett starrte nachdenklich auf die gelben Streifen, die allmählich im Dunkel der Nacht verschwanden.
17. Kapitel
Dr. Ian Paulos war im Seminargebäude der Trinity Episcopal School in Ambridge auf dem Weg in sein Büro. Wie stets war er von einer Gruppe aufgeregter Studenten umgeben, die ihn wie kleine Begleitboote umschwärmten. Er selbst hatte etwas von einem schweren Lastkahn an sich und entsprach in seiner Leibesfülle ganz und gar nicht dem gängigen Bild des Gelehrten. Wegen seines schwerfälligen Gangs hätte man gewiss alles andere als einen Doktor der Theologie in ihm vermutet, vielleicht eher einen Hafenarbeiter. Sein Mund verschwand fast vollständig unter einem riesigen Schnauzbart, und sein grau meliertes Haar war so struppig, dass jeder Kamm kläglich daran scheitern musste. Er trug vorne auf der Nasenspitze eine schmale Brille, die ihn nötigte, ständig den Kopf zu heben oder zu senken, je nachdem, wen oder was er gerade näher in Augenschein nehmen wollte. Wo immer man ihn antraf, hatte er einen Stapel Bücher unter dem linken Arm und in der rechten Hand eine alte braune Ledertasche.
Seine beiden Ethik-Grundkurse - der eine »Recht und Unrecht« betitelt, der andere »Gut und Böse« - erfreuten sich bei den Studenten ungemeiner Beliebtheit. Ihre Popularität verdankten sie nicht zuletzt Dr. Paulos’ Gewohnheit, seine Lehrveranstaltungen am Ende der Stunde mitten im Satz einfach abzubrechen, sich dann umzudrehen und aus der Tür zu stürmen. Studenten, die das Ende des Satzes in Erfahrung bringen wollten, hatten also gar keine andere
Wahl, als hinter ihm herzulaufen. Und so rannte er stets mit einer ganzen Traube eifrig diskutierender Studenten im Schlepptau durch Flure und Gänge, über Höfe und selbst über den Parkplatz. Ja, es kam sogar vor, dass er seinen Anhang sehr zum Leidwesen der weiblichen Studenten dazu nötigte, ihm bis auf die Herrentoilette zu folgen.
»Und ich bleibe dabei: Das höchste Prinzip ist die Liebe«, tat gerade ein Student inbrünstig kund. »Alles, was man aus Liebe tut, ist stets wohlgetan. ›Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, mit ganzer Hingabe, mit deinem ganzen Verstand und mit all deiner Kraft‹«, zitierte er. »Dies ist das erste und größte Gebot. Das zweite aber lautet: ›Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.‹«
»Kommt mir irgendwie bekannt vor«, sagte Paulos. »Aber was meinen Sie denn genau, wenn Sie die Liebe als ›höchstes Prinzip‹ definieren?«
»Aber was Liebe ist, weiß doch jeder.«
»Tatsächlich? Und was ist mit der Frau, die vor ein paar Jahren ihren Wagen rückwärts in einen See gefahren und ihre Kinder damit einem jämmerlichen Tod durch Ertrinken überantwortet hat? Im Polizeiverhör hat sie später erklärt: ›Ich habe meine Kinder so sehr geliebt. Nie hat jemand seine Kinder mehr geliebt als ich.‹ Was meinen Sie: Hat diese Frau ihre Kinder wirklich geliebt?«
»Nein, natürlich nicht.«
»Und woher wissen Sie das so genau? Können Sie etwa die Gedanken und Gefühle dieser Frau lesen?«
»Vielleicht hat sie ja sogar echte Liebe empfunden «, sagte eine Studentin. »Trotzdem hat sie sich nicht wie eine liebende Mutter verhalten .«
Paulos stürmte unbeirrt weiter seines Weges; er drückte lediglich das Kinn nach unten und sah die Studentin über
den Rand seiner Brille hinweg an. Die Studenten an der Trinity Episcopal School wussten nur zu gut, wie sie Paulos’ Reaktionen zu deuten hatten. Wenn er den Kopf hob und sein Gegenüber durch die Brillengläser musterte, war das ein gutes Zeichen, ein Zeichen der Nachdenklichkeit oder sogar des Respekts. Wenn er das Kinn dagegen nach unten drückte und seinen Gesprächspartner direkt ansah, blieb eigentlich nur noch die Flucht.
»Woher wissen Sie so genau, was Liebe ist?«, fragte Paulos. »Was bedeutet das Wort denn eigentlich?«
Die Studentin zuckte mit den Achseln. »Aber das wissen Sie doch selbst.«
»Nein, das weiß ich nicht - und Sie ebenso
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