Totenwache
dagesessen und uns mit deinem Fernglas beobachtet?!!«
»Na klar, ich saß da und habe ein bisschen mit meinem Axtfernglas gespielt. Jonna ist nicht schöner davon geworden, dass ich sie angestarrt habe, und fröhlicher auch nicht. Da habe ich dann aus dem Fenster geguckt und gesehen, wie ihr hier gesessen und gefeiert habt. Na, dachte ich, ich geh mal rüber und sorge für Stimmung.«
» FÜR STIMMUNG SORGEN!! Du hast also dagesessen und uns mit dem Fernglas beobachtet! Krister, sieh zu, dass der Kerl aus dem Haus ist, wenn ich wiederkomme. Ich gehe raus!«
»Wo willst du hin?«, fragte Krister vorsichtig. Maria antwortete nicht. Die Tür wurde mit einem Knall zugeschlagen, und etwa gleichzeitig stieg Emil aus dem Bett.
Der ablandige Wind hatte langsam zugenommen. Es nieselte leicht. Maria nahm den Pfad hinunter zum Strand, vorbei an den Strandschuppen, die sich grau und ungemütlich gegen den Wind zusammendrückten. Sie blickte bei dem alten Jacob hinein, der über den Tisch gebeugt dasaß und schlief. Sicher müde von dem Unwetter. Sonst saß er abends auf der Bank am Giebel und flickte seine Netze, mit der weiten See vor Augen. Er war so beruhigend, der alte Jacob. Die Sicherheit selbst. Als sie das letzte Mal miteinander gesprochen hatten, saß er da und schmunzelte. »Wenn man die Mütze in die Stirn schiebt, ein sauberes blaues Hemd anhat und ordentlich Kautabak hinter der Lippe, dann spürt man, dass Sonntag ist«, hatte er gesagt. Jacob schien gute Augen und ein gutes Gedächtnis zu haben. Wäre schön, wenn man als alter Mensch ebenso munter sein könnte. Das kann man sich nur wünschen. Man konnte sagen, dass Jacobs Schuppen so etwas wie ein Treffpunkt war. Die meisten kamen hier vorbei, wechselten ein paar Worte, tranken eine Tasse Kaffee und bekamen einen guten Rat oder einen Witz mit auf den Weg. Zwar kochte er manchmal den Kaffee zweimal mit dem gleichen Kaffeesatz, um nichts zu vergeuden, aber wenn man sonntags vorbeikam, waren garantiert frische Bohnen im Kessel.
Maria ging mit großen Schritten hinunter an den Strand. Die Wellen rollten auf den Strand, überspülten den steinernen Bootssteg und zogen sich mit ihrer Beute aus Muscheln und in der Sonne getrocknetem Tang gierig zurück. Mit jeder Welle wurde das Sandschloss mit seinem Wallgraben aus Seegras, seinen Wimpeln aus Vogelfedern und seinen kleinen Wegen aus Tang niedriger. Bald war nur noch ein kleiner Hügel von dem Schloss zu sehen, das Emil gebaut hatte. Maria ließ sich auf einem feuchten Stein nieder. Ließ den Blick über die See gleiten und sog die Meeresluft mit tiefen Atemzügen ein. Das aufgelöste Haar, mit dem der Wind gespielt hatte, wurde vom Regen schwer, der jetzt in immer größeren Tropfen fiel.
Einsamkeit, Zeit, für sich allein zu sein, ohne andere Geräusche als die der Natur. Warum gönnt man sich das so selten? Das müsste zu den Grundrechten der Menschen gehören: das Recht auf Zeit für sich allein, um ein ganzer Mensch zu werden, um festzustellen, wer man ist und was man mit seinem Leben anfangen will. Zeit auf einem Stein am Meer, in der niemand Forderungen stellt. Vielleicht sollte man sich mit sich selbst verabreden: Wir sehen uns jeden Donnerstagabend bei einer Mütze voll Seeluft oder Waldluft, wir sehen uns auf der Wiese bei den Eichen, ich und ich. Um sich im Selbst auszuruhen. Warum war die Zeit so ungleich verteilt? Oftmals war Maria Menschen begegnet, die mit ihrer Einsamkeit und der vielen Zeit kaum fertig wurden, die sich danach sehnten, mit jemandem gemeinsam etwas zu unternehmen.
Langsam legte sich ihre Wut, und sie konnte die Schönheit ihrer Umgebung genießen. Die Abendsonne brach durch die goldgeränderten Wolken. Die letzten kraftvollen Strahlen richteten sich beinnahe senkrecht wie eine verklärte Kerze auf Kronholmen. Das dunkle Wasser und die dunklen Regenwolken am Himmel schafften Kontraste zu dem Licht. Eine erhabene Schönheit, die den ganzen Körper durchflutete.
Ein elegantes Segelboot weit draußen vor Kronholmen steuerte langsam auf den Sportboothafen zu. Vielleicht war es Odd Molin, dem es gelungen war, Damengesellschaft aufzugabeln, wer weiß. Widerwärtig: für leichten Gravad Lachs und Seekrankheit, dachte Maria und stand auf, um steif und durchgefroren nach Hause zu gehen. Jetzt, nachdem sie ihr inneres Gleichgewicht wiedergefunden hatte, tat ihr Krister fast ein wenig Leid, wie er da mit seinen schlaftrunkenen, quengelnden Kindern und Mayonnaises ekelhaft vergorenem Wein
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