Totenwache
ängstlich wartend übers Wasser Ausschau hält nach den Booten mit den weißen Segeln, die das Leben brachten. Da draußen auf dem Meer mussten Unzählige geblieben sein. Jeder Abschied war von dem Wissen belastet. Maria spürte einen tausendjährigen Atem in der Abendbrise. Frauenangst und Frauentrauer durchzogen die Zeiten wie ein blauer Faden.
»Schön, dass du vorbeigekommen bist.« Erika blickte freundlich und vertraut zu Maria. »Bisschen unheimlich hier draußen, aber jetzt fühle ich mich besser. Solltest du jetzt nicht am besten nach Hause fahren und ein bisschen schlafen? Du arbeitest doch morgen?«
In der Küche brannte Licht. Einen kurzen Moment bildete Maria sich ein, dass Krister wach war, dass er noch auf war und auf sie wartete. Aber das war nicht der Fall. Tiefe Atemzüge waren aus dem Schlafzimmer zu hören, und da lag Krister auf dem Bauch und schlief, die Decke hatte er mit den Füßen weggeschoben. Emil und Linda schliefen auch Seite an Seite in Marias Bett. Linda mit dem Daumen im Mund. Maria überlegte, wo der Schnuller sein konnte. Es war nicht gut, wenn sie den Daumen statt des Schnullers nahm. Den Schnuller kann man einem Kind besser abgewöhnen.
Maria kroch ganz außen ins Bett und versuchte, ihre trüben Gedanken zu verscheuchen, aber das gelang ihr nicht. Wie aufgeregte Insekten schwirrten sie ihr durch den Kopf. Hatte Krister die Kinder absichtlich in das Doppelbett gelegt, um einer Konfrontation aus dem Wege zu gehen? Maria drehte und wand sich im Bett. Sie fand beim besten Willen keine Ruhe. Was Konrad erzählt hatte, ging ihr durch den Kopf. Die Geschichte von Rosmaries Geliebtem, dem jungen Mann, der in der Gärtnerei gearbeitet hatte und danach zusammen mit Clarence nach Zypern gegangen war. Konnte das Mårten Norman gewesen sein? Oder Odd? Mayonnaise war auch auf Zypern gewesen. Aber dass der Rosmaries Geliebter gewesen sein sollte, schien kaum glaubhaft. Maria lächelte vor sich hin, und die Anspannung ließ nach. Mit diesem Gedanken musste sie eingeschlafen sein, denn als sie das nächste Mal die Augen aufschlug, war es taghell im Schlafzimmer. Eine aufdringliche Fliege, ein richtiger Brummer, wanderte auf der Bettdecke auf und ab und untersuchte ihr Umfeld.
Die Stunden der Morgendämmerung waren am schlimmsten. Der saure Gestank des Bettzeugs nach Schweiß. Die Schmerzen von den fest zusammengebissenen Zähnen. In wilder Panik war er aufgewacht, hatte geschrien, sich eng zusammengerollt und seinen Kopf geschützt. Nirgendwo konnte er seinen unruhigen Geist ausruhen, nicht mal im Schlaf. Die grenzenlose Müdigkeit drückte gegen das Stirnbein, zerlegte das Gehirn in seine einzelnen Bestandteile. Der Schrei blieb ihm in der Kehle stecken, zurückgehalten von einem schwachen Willen. Die Augen brannten vor verzweifelter Schlaflosigkeit. Er wagte nicht einmal daran zu denken, wieder einzuschlafen und wieder in die grundlose Tiefe des Abgrundes zu fallen. Daher zwang er den Körper zu planloser Wanderung, planlosem Umherirren, nicht zu ruhen, nicht wieder einzuschlafen. Starker Kaffee rann durch die trockene Kehle und brannte auf der Magenschleimhaut. Die ständigen Schmerzen strahlten auf den Rücken aus, sie halfen ihm, sich gegen seinen Feind, den Schlaf, aufzulehnen.
Obwohl er alles hinter sich gelassen hatte, was ihn an die schlimme Zeit erinnerte. Gefangen im kräftigen Griff der Gefühle, hatte er seine Erinnerungen zu Asche verbrannt, alles bis auf den Ring. Den hatte er drei Faden tief im Meer versenkt. Das waren die leblosen Dinge. Jetzt blieben nur noch die lebendigen Erinnerungen an das, was geschehen war. Dann kam er vielleicht zur Ruhe, wenn nicht anders, so in der Ewigkeit. Der Gedanke an den alten Jacob ließ seinem Gewissen keine Ruhe. Ein Fehler. Er hätte an den alten Jacob denken müssen, der am Giebel seines Schuppens saß und Netze flickte. Aber die Müdigkeit hatte seine Aufmerksamkeit beeinträchtigt. Zu spät hatte er eingesehen, dass die Augen des Alten etwas gesehen hatten, was sie nicht sehen durften. Jacob wusste es noch nicht, aber wenn Fragen gestellt würden, würde das visuelle Gedächtnis des Alten eine Gefahr darstellen, eine Trumpfkarte in der Hand des Feindes. Das Risiko konnte er nicht eingehen. Ohne eiligst zu verschwinden, hatte er die neue Situation methodisch durchdacht. Warum nicht die Mordwaffe da lassen, wo die Polizei suchen würde, sie sorgfältig platzieren und sie zu einem Teil der Rache werden lassen? Noch war die Zeit nicht
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