Totenwache
einem kleinen Ziegelhaus in zentraler Lage zwischen der Kirche und der Bibliothek. Im Wohnzimmer brannte Licht. Der Tisch war mit einem Kristallglas und gefalteter Serviette für eine Person gedeckt. Marianne hatte sicher bereits schon vor mehreren Stunden gegessen, stellte Hartman mit einem Blick auf die Uhr fest. Der Mond sah neugierig durch die Scheibe, als Tomas Hartman sich Wein in das hübsche handgeschliffene Glas goss. Das Schachspiel stand bereit. Seine Frau hatte den weißen Bauern nach C3 gezogen, ehe sie sich schlafen legte, etwas weniger gewagt nach dem Verlust beim letzten Mal. Hartman überlegte eine Weile, machte einen Zug und weckte dann seine Frau mit einem Kuss auf die Stirn. In einem Käfig auf dem Fußboden saß Peggy eingesperrt. Das Leben zu Hause hatte an diesem Abend einen neuen und ungewöhnlichen Glanz bekommen. Marianne stand auf, zog sich ihren blauen Bademantel an und ließ sich am Schachbrett nieder. Sie fingerte unschlüssig an ihrem weißen Springer.
»Mir wird noch einfallen, wie man das gemacht hat«, sagte sie eigensinnig.
»Das wird wie beim letzten Mal werden, du verkriechst dich wieder in deiner Ecke.«
»Glaubst du, jemand hat das getan?«
»Was meinst du?«
»Sich im Ernst in eine Ecke verkrochen.«
»Warum nicht? Irgendwoher muss der Begriff ja kommen.«
»Oder den Zweig abgesägt, auf dem er sitzt?«
»›Mir ist nichts Menschliches fremd.‹«
»Das ist beinahe so wie im ›Guinness Buch der Rekorde‹, eine Dummheit machen, die so außergewöhnlich ist, dass daraus eine Redensart wird. Eine Art Beleg dafür, dass sie das absolut Dümmste ihrer Art ist.«
»Im Büro sagen wir ›souveränes Essen‹, dann wissen alle, dass das Risiko einer Vergiftung groß ist.«
»Du meinst damals, als Ek den Leberauflauf des Kalifen servierte. Du musst nicht so nachtragend sein. Und übrigens ist das kein landesweit bekannter Begriff.«
»Noch nicht.«
»Bist du ganz sicher, dass du deinen Urlaub aufschieben musst, Tomas? Das ist ärgerlich. Und was ist mit der Westküste? Musst du deinen Urlaub jedes Mal als Letzter nehmen?«
»Ich finde auch, dass das ärgerlich ist, aber ich habe wirklich keine Wahl. So ist das nun mal. Kannst du nicht deine Schwester auf eine Last-Minute-Reise mitnehmen und wir lassen uns dann etwas einfallen, das wir später gemeinsam machen können?«
»Ich möchte aber lieber mit dir verreisen, beim letzten Urlaub war es schon genauso. Es ist nicht leicht, mit Kriminalinspektor Hartman zusammenzuleben, das will ich dir nur mal sagen. Aber getan ist getan.«
»Gib zu, dass du mich des Geldes wegen geheiratet hast, wegen meines guten Gehaltes«, sagte Tomas mit gespieltem Ernst.
»Nein, deinen Körper wollte ich haben«, lächelte Marianne und klopfte ihrem Mann auf den Schmerbauch.
Sie zogen die Vorhänge im Schlafzimmer zu und krochen ins Bett. Kriminalinspektor Hartman, der nach den Ereignissen des Tages völlig am Ende war, schlief sofort ein. Im Halbschlaf hörte er die Stimme seiner Frau von weit her. Zuerst schwach murmelnd und dann immer dringlicher.
»Tomas, was glaubst du, wie sich Lena im Augenblick fühlt?«
Hartman fuhr mit einem Ruck hoch, wie ein Barsch an der Angel.
»Was hast du gesagt?«, krächzte er hellwach.
»Aber du hörst mir ja nicht zu. Ich überlege, wie es bei Lena steht, mit Freunden und so. Meinst du, sie ist mit ihrem Leben zufrieden, so wie es jetzt ist?« Tomas Hartman überlegte krampfhaft. War Lena auf irgendeine Art gefährdet? Was war es denn, das er verstehen sollte? Was erwartete Marianne von ihm?
»Geht es ihr nicht gut? Hat sie dir was gesagt?«
»Nein, nicht direkt. Ich habe nur dagelegen und überlegt.«
»Es ist also nichts passiert?«, fragte Tomas erschöpft.
»Nicht dass ich wüsste. Jetzt schlafen wir, finde ich.«
Marianne drehte sich auf die Seite und schlief bald danach mit ruhigen tiefen Atemzügen. Aber Hartman konnte sich nicht entspannen. So war es häufig. Gerade wenn er kurz vor dem Einschlafen war, begann seine Frau den Tag mit all seinen guten und schlechten Ereignissen zusammenzufassen. Gern mit einer oder mehreren Fragen am Schluss, die die ganze Ermittlungsmaschinerie wieder in Gang setzten. Dann konnte er daliegen und sich quälen, während sie ihre Grübeleien abgeladen hatte und ruhig schlief.
Lange Zeit stand er hinter dem Jasminstrauch versteckt und sah die Abenddämmerung kommen. Die weißen Blüten dufteten nicht mehr: gelblich und leblos klammerten sie sich an die
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