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Totenzimmer: Thriller (German Edition)

Totenzimmer: Thriller (German Edition)

Titel: Totenzimmer: Thriller (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanne Staun
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wie immer höflich, aber kaum sichtbar zunickte, als ich an ihm vorbeiging. Aber auch hinter seiner zu einem Lächeln verzogenen Haut erahnte ich einen eiskalten Blick. Mit einem Mal hatte ich das Gefühl, dass er in sich zusammenfallen und wie Wachs schmelzen würde, sobald man wieder wegsah.
    Ich setzte mich an meinen Schreibtisch und schaltete den Computer an. All meine bekannten Mangelsymptome tauchten sofort auf. Ich schlüpfte durch die Tür und schlich in Richtung Bibliothek, wobei mir glücklicherweise niemand begegnete. In der Kanne war Kaffee, und die Bibliothek war leer. Ich fühlte mich vom Glück verfolgt, ja fast gesegnet. Doch als ich die Tür mit dem Kaffee in der Hand öffnete, stieß ich beinahe mit Ruth zusammen, so dass die Hälfte des Kaffees gleich wieder auf der Untertasse landete. Ruths Lippen deuteten das übliche, hyperfrische »Guten Morgen!« an, aber ihre Augen fokussierten mich dabei auf eine ganz neue, musternde Weise. Ihr diskreter Fahrstuhlblick, als sie sich die ganze Szenerie vorzustellen versuchte, entging mir nicht: die eine Brust entblößt, den Slip an den Knien. Unfreiwillig spielte ich noch einmal den ganzen Film ab, zögerte aber am Schluss. Wie war es abgelaufen? War Helle gut gelaunt und mit weit aufgerissenen Augen in das klaustrophobische Sekretärinnenbüro gestürmt und hatte in schrillem Staccato gerufen: »Also, JETZT muss ich euch was erzählen!«? Sicher war ich mir allerdings darin, dass sie die Geschichte vor ihren begeisterten Zuhörerinnennoch extra ausgeschmückt hatte. In ihrer schwesterlichen Verärgerung waren sie alle jetzt gewiss noch bessere Freundinnen als jemals zuvor. Ich fragte mich, ob man damals, als die Menschen noch in Stämmen zusammenlebten, nur deshalb zusammenblieb, weil hin und wieder jemand sagte: »Also, JETZT muss ich euch was erzählen!«
    Ich konnte nicht bleiben, auf keinen Fall. Das war unerträglich. Ich wollte nach Hause. Mit eingezogenem Schwanz … während die Geschichte sich langsam auch in den anderen rechtsmedizinischen Instituten verbreitete. Vor bestimmten Dingen konnte man ganz einfach nicht weglaufen.
    Ich ging rasch zurück in mein Büro und schloss die Tür hinter mir. Der Kaffee war in null Komma nichts weg, aber ich traute mich nicht noch einmal nach draußen. Nicht schon wieder. Ich wollte mein Schicksal nicht herausfordern. Stattdessen beendete ich den Obduktionsbericht und beantwortete ein paar Mails, bevor Nkem an die Tür klopfte, den Kopf hereinsteckte und mir mit ihren hochgezogenen Augenbrauen erklärte, dass um 10.45 Uhr die Dienstagskaffeerunde begann. Ich durchforstete mein Hirn nach einer Entschuldigung, um nicht teilnehmen zu müssen, und sah auf die Uhr. Es war erst halb elf.
    Nkem trug an diesem Morgen ein oranges Gewand und ein dazu passendes Haarband. Sie kam still herein, zog den Besucherstuhl vom Schreibtisch weg und setzte sich.
    »Du wolltest mir etwas erzählen?«
    Es gab so viel, was ich ihr erzählen wollte, aber in diesem Moment stand das Schrille im Vordergrund, das Frische, Konkrete, Handfeste, lichterloh Brennende, nämlich das, was in meinem Büro vorgefallen war. Ich setzte mich in den Fensterrahmen, öffnete das Fenster, zündete mir eine Zigarette an und gab mir einen Ruck. Nkem war gläubige Katholikin, sie ging jeden Sonntag in die Kirche und hatte illustrierte Ausgaben der Bibel bei sich zu Hause auf dem Klo, in der Küche und auf ihrem Nachtschränkchen liegen. Solch unchristlicheHandlungen wie die jetzt gebeichtete wies sie immer weit von sich. Der Katholizismus stand ihr, aber trotzdem wünschte ich mir gar nicht so selten, sie wäre einfach eine alte afrikanische Heidin mit Regalen voller Zaubertränke und Pülverchen, die man in die Kaffeemaschine kippen konnte. Nicht zu vergessen die Flüche und Beschwörungen, die auch bei Tageslicht und Nadelfilz ihre Wirkung nicht verloren.
    »Hmm«, sagte sie nun, als ich zum Ende gekommen war.
    »Ich ertrage das nicht.«
    »Hmm«, sagte sie wieder und machte mich mit ihrem tiefen, ewigwährenden Atemzug drei Jahre älter. »Du hast drei Möglichkeiten. Du kannst ihn verklagen. Du kannst kündigen, und du kannst so tun, als wäre nichts geschehen.«
    »Ich kann ihn NICHT verklagen«, sagte ich, halb aus dem Fenster hängend. »Ich hätte ihn jederzeit stoppen können. Ich meine, als er mich das erste Mal berührt hat, hätte ich doch bloß die Augen aufmachen und ihn zum Teufel jagen müssen.«
    Sie fixierte mich wortlos mit ihrem schwarzen

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