Totenzimmer: Thriller (German Edition)
Krankheit wäre mehr oder weniger ausgestorben, dass sie nur noch in wenigen, eng begrenzten und sehr isolierten Gebieten vorkam, doch jetzt las ich, dass es allein in den USA in fünf verschiedenen Staaten akuteFälle von Lepraerkrankungen gab und dass jeden Tag neue Patienten hinzukamen. In Afrika, Asien und Südamerika war die Krankheit noch immer in vierzehn Ländern so stark verbreitet, dass sie dort zu den Volkskrankheiten gezählt wurde. Die Forschung war überdies der Meinung, dass das Problem in Zukunft wieder größer werden würde. Fasziniert las ich Nkem vor: »Das Leprabakterium ist seit gut einhundertdreißig Jahren bekannt, trotzdem wissen wir noch heute erstaunlich wenig über seine Funktionsweise. Auch die Ansteckungswege sind nach wie vor unbekannt. Aus einer Reihe von epidemiologischen Untersuchungen weiß man allerdings, dass gut fünfundneunzig Prozent von uns immun gegen eine Infektion sind, wir haben aber keine Ahnung, was die übrigen fünf Prozent von dieser Mehrheit unterscheidet. Und über den Ansteckungsprozess wissen wir nur, dass eine Langzeitexponierung nötig ist. Aber der eigentliche Mechanismus, also die Frage, ob das Bakterium durch Tröpfcheninfektion, durch Berührung oder auf anderem Weg übertragen wird, ist noch ungeklärt. Auch der Krankheitsverlauf ist in gewissen Teilen ein Mysterium, man weiß nur ganz generell, was da vor sich geht. Das
Mycobacterium leprae
arbeitet extrem langsam, und die Inkubationszeit kann bis zu zwanzig Jahre betragen. Das Bakterium greift die Haut und die peripheren Nerven, die die Extremitäten versorgen, an. Die ersten Symptome der Krankheit sind demnach helle Flecken mit verminderter Empfindsamkeit.« Ich hielt inne und starrte auf die dicke Rinde des Baums. An Letzteres erinnerte ich mich gut. Die verminderte Empfindsamkeit war schließlich gerade die Ursache für die beängstigenden Symptome, die die Lepra in allen Zeiten so bekannt und gefürchtet hatte werden lassen. Das Abfaulen von Fingern, Zehen und Nasen war nämlich keine direkte Folge der Infektion, sondern rührte daher, dass die Patienten sich fortwährend selbst verletzten, ohne es zu spüren. Sie ignorierten all die kleinen Verletzungen, die man normalerweise entweder vermied oder gleich verarztete. Leprakranke übergingen diese Risse, Brandwunden, Stöße und Schlägeeinfach, dabei waren gerade diese kleinen Verletzungen mögliche Infektionsquellen, die über längere Sicht zu totem Gewebe führen können. Aber trotzdem: Lepra in Dänemark?
Ich sah ratlos zu Nkem hinüber. »Ja, aber … was wäre, wenn der Täter in einem der Länder gewesen ist, in dem die Krankheit noch grassiert, und zu den fünf Prozent gehört, bei denen sie aus unerfindlichen Gründen ausbricht?«
Nkem hatte sich in ihren Laptop vertieft und schüttelte langsam den Kopf. »Das glaube ich nicht. Ich habe hier eine E-Mail der Lepra-Kommission vor mir. In der steht, dass es in Dänemark seit 1911 keinen Fall von Lepra mehr gegeben hat und es sich bei dieser Person um einen Dänen gehandelt hat, der lange Zeit mit Leprakranken gearbeitet hat.« Sie blickte auf. »Weißt du was? Der hat ganz einfach keine Lepra. Hast du Hunger? Das ist echt unglaublich.« Sie nickte in Richtung der jungen Frau mit Teleobjektiv. »Was für seltsame Hobbys manche Leute doch haben, oder?«
Während Nkem eine Tischdecke ausbreitete und eine große Plastiktüte mit geschälten Auberginenstücken darauf ausleerte, las ich mit dem Laptop auf dem Schoß weiter. Es waren zahlreiche klinische Versuche unternommen worden, die alle darauf abzielten, die immundämpfende Wirkung des Stoffes Clofazimin zu erforschen, bereits zu Zeiten, in denen das Mittel noch gar nicht gegen Lepra zugelassen war. Zuerst erwies es sich als effektiv in der Behandlung gegen den chronischen Lupus erythematodes, eine Hautkrankheit, an deren Symptome ich mich allerdings nicht mehr richtig erinnerte. Siebzehn von sechsundzwanzig Patienten ging es nach der Therapie besser. Sporadisch gab es auch gute Resultate bei anderen Autoimmunkrankheiten wie Schuppenflechte,
Cheilitis
granulomatosa, wenn ich mich richtig erinnerte, eine üble Entzündung in den Lippen, Morbus Crohn und
Colitis
ulcerosa, einer chronisch-entzündlichen Darmerkrankung. Nachdenklich blickte ich von meiner Lektüre auf.
»Keinen Hunger?«, fragte Nkem und zwinkerte mir zu.
»Kriegt man etwa Hunger, wenn man sich über die verschiedensten Darmerkrankungen informiert oder über Lepra? Ich jedenfalls
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