Totenzimmer: Thriller (German Edition)
eigenen Urins. Dann war ich weg.
Danach, viele Tage später, dachte ich darüber nach, wie lange es gedauert hatte. Dreißig Sekunden? Eine Minute? Zwei? Es fühlte sich wie eine Ewigkeit an, wenn jede Zelle des eigenen Körpers nach Luft schrie.
Da waren Vögel, schon wieder Vögel. Und Sonne. Licht, das sich wie ein stechender Schmerz in mein Auge bohrte, wie eine brennende Nadel bis tief in mein Hirn hinein. Ich drehte das Gesicht weg und versuchte zu verschwinden, aber die Vögel waren zu zahlreich, das Licht zu grell. Mein Hals tat so weh, dass ich kaum schluckenkonnte. Ich versuchte ihn zu strecken, aber das machte alles nur noch schlimmer. Nach und nach spürte ich auch den Schmerz in meinem Fuß, meinem Auge, meiner Nase. Ich stemmte den Oberkörper mit den Händen hoch und gelangte in eine sitzende Position; saß einen Moment da, alles drehte sich. Unmittelbar vor mir stand ein großes, hässlich verrostetes Stück Schrott. Ich sah an mir selbst herab. Mein rotes Kleid hing mir an den Hüften, und ich trug keinen Slip. Ich zog das Kleid nach unten und sah mich um, konnte aber nirgends den zerrissenen schwarzen Slip erkennen. Ich fuhr mit den Fingern über meine Nase. Sie war geschwollen und hatte eine Kante an einer Stelle, an der keine Kante sein sollte. Ich blinzelte mit den Augen und betastete vorsichtig das schmerzende Auge. Die Schwellung war deutlich zu spüren. Dann versuchte ich aufzustehen, aber mir wurde schwarz vor Augen, und ich verlor das Gleichgewicht. Mein Bein schmerzte, und ich fiel wieder hin. Ich blieb einen Moment sitzen, meine Gedanken reichten noch gar nicht so weit, dass ich darüber nachdenken konnte, was ich tun oder wie ich hier wegkommen sollte. Um irgendetwas Sinnvolles zu tun, umklammerte ich mit Zeigefinger und Daumen fest meine Nasenspitze und zog. Und schrie. Die Schmerzen waren kaum zu ertragen, ich biss die Zähne zusammen, schmeckte das Metall in meinem Mund und konzentrierte mich, bis das Stechen irgendwann etwas erträglicher wurde, wenngleich es nicht ganz aufhörte. Dann sah ich mir meinen linken Fuß an. Er war fast doppelt so dick wie der rechte. Das Gezwitscher der Vögel brachte mich noch zum Wahnsinn. Eines Tages, gelobte ich mir, würde ich in einem Wald übernachten und beim Morgengrauen all die zwitschernden Vögel abknallen.
Ich wollte weg und sah in Richtung der Brücke. Hinter den Bäumen konnte ich sogar ein Stück der Kühlerhaube meines GTI sehen. Dahin gelangen konnte ich allerdings nicht. Ich tastete nach meinem Handy am Oberschenkel, fand aber nur das Strumpfband und sah mich erneut um. Nach links. Kein Handy. Nach rechts. Auch keinHandy. Geradeaus: nur die hässliche Eisenskulptur. Ich erinnerte mich daran, wie eine Stoffpuppe über den Rasen gezogen worden zu sein. Aber wo? Und wohin? Ich scannte das Gras um mich herum, konnte das Handy aber nicht sehen; legte mich hin und begann zu weinen, aber das machte die Schmerzen in meinem Kopf und meinem Auge nur noch schlimmer. Schließlich gab ich jeden Versuch auf und schlief vor Erschöpfung ein.
Irgendwann spürte ich eine warme, weiche Hand auf meiner Wange. Ich blickte auf und sah in das besorgte Gesicht einer älteren Frau.
»Sind Sie verletzt?«
Ich konnte mir ein Lachen nicht verkneifen, von dem mir allerdings der gesamte Körper so schmerzte, dass ich wieder jammerte.
»Nein, so sehe ich immer aus«, sagte ich mit einer dunklen Stimme, die meiner nicht einmal ähnlich war, und Tränen liefen über mein Gesicht. Das Sprechen tat unerträglich weh. Meine Kehle fühlte sich geschwollen und wund an.
»Ist Ihnen etwas geschehen? Soll ich den Notarzt …« Ich folgte ihrem Blick und bemerkte, dass mein Kleid wieder nach oben gerutscht war. Für einen Augenblick überwältigte die Scham die Summe der Schmerzen, aber wirklich nur für einen Augenblick. Vorsichtig zog ich das Kleid nach unten.
»Nein! Aber sehen Sie irgendwo in der Nähe ein kleines, schwarzes Handy?«
Sie erhob sich, und jetzt konnte ich sehen, dass sie eine Leine in der Hand hielt, an der etwas zog. Ein Hund. Ich schloss die Augen, war bereits wieder vollkommen erschöpft.
»Meinen Sie dieses hier?«
Ich öffnete langsam die Augen und sah auf mein Handy, das auf der ausgestreckten Hand der Frau lag.
»Vielen Dank.«
»Soll ich nicht doch den Notarzt …«
»Nein, danke, ich rufe selbst an. Vielen, vielen Dank.« Ich schloss die Augen und nickte ihr freundlich zu.
Sehr nett, danke, aber jetzt kannst du gehen.
Sie
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