Totenzimmer: Thriller (German Edition)
war groß, die Mädchen weinten, und die Jungen standen wortlos daneben.
In den folgenden Tagen registrierte ich, dass meine Mutter mich etwas zu oft und etwas zu intensiv anschaute. Mir ging das gegen den Strich, und ich fand, nun war es bald an der Zeit, dass auch sie einen Schritt weiter ging. Mein anmaßendes Ziel lautete schließlich: Übung und Perfektion. Dass mich nach dem Brand niemand misstrauisch ansah odergar verdächtigte, hatte ich in erster Linie meinem Glück und meinem guten Ruf zu verdanken.
Mein Vater war zufrieden. Die Versicherung zahlte für das Sommerhaus, und als ich kurz nach der Katastrophe ankündigte, Medizin studieren zu wollen, sah ich ihn förmlich aus seinen Kleidern wachsen. Dass er glaubte, ich wolle damit in seine Fußstapfen treten, war mir allerdings peinlich. Er glaubte tatsächlich, ich wollte Arzt werden, weil er Arzt war. Nichts lag mir ferner. Manchmal erwog ich sogar ernsthaft, stattdessen Jura oder irgendetwas anderes zu studieren, möglicherweise sogar etwas, das ihn entsetzte. Dann und wann, wenn mein Trotz für einen Moment die Überhand gewann, dachte ich sogar darüber nach, irgendwo auf einer Autobahnraststätte die Toiletten zu putzen, in orangen Klamotten durch die Stadt zu laufen und mit einer verbogenen Greifzange das weggeworfene Kaugummipapier anderer Leute aufzusammeln oder als Gemüsemann in einem Supermarkt zwischen Jærslev und Maderup zu arbeiten. Aber diese Anfälle ebbten immer wieder ab, denn ich wusste ganz genau, was ich wollte. Meine zukünftige Laufbahn würde mir weitreichende Kenntnisse der Anatomie und Medizin verschaffen, außerdem war ich ein für alle Mal kuriert, was simple chemische Lösungen anging. Natürlich bedeutete das für mich, dass ich einen anderen Weg finden musste, um meinen Vater zu quälen. Also richtete ich meinen Blick wieder auf meine Mutter. Mein Vater sollte bald pensioniert werden, und zu meinem Entsetzen hatte ich sie schon Seite an Seite in bunten Broschüren blättern sehen. Voller Erwartung. So etwas hatte es zuvor nie gegeben. In den Augen meiner Mutter erkannte ich in diesen Momenten sogar so etwas wie Freude. Sie wollten nach Indien und von dort aus dann zu allen möglichen anderen Orten auf dieser Welt. Mein Vater war plötzlich wieder besser auf sie zu sprechen, das war eindeutig zu erkennen. Vielleicht hatte er sich mit seinem Schicksal abgefunden, damit, den Rest seiner Tage an ihrer Seite zu verbringen, denn welcher Greis fürchtet nicht die Einsamkeit? Aber er sollte einsam sein und sie unter die Erde, jedenfalls wenn es nach mir ging. Bei der Polizei verstanden sie sichmittlerweile aber so gut auf diese vieldiskutierten DNA-Untersuchungen, dass ich mich gründlich vorbereiten musste. Ich durfte kein Detail außer Acht lassen und musste an alles denken. Das Glück ist mit den Dummen, sagt man, von der Seite durfte ich mir also keine Hilfe erwarten.
20
Nkem und ich saßen eine Weile schweigend beisammen. Irgendwann nahm sie meinen Teller und ging in die Küche. »Willst du noch mehr?«, rief sie. Ich hatte keine Lust zu rufen und antwortete nicht. Das war aber auch gar nicht nötig, denn ich wusste, dass sie mir so oder so noch einen Teller bringen würde. Was sie auch tat. Dann holte sie mir die Zeitung und setzte sich mit ihrem Computer an den Esstisch.
»Wie spät ist es?« Ich musste mich endlich wieder orientieren.
»Etwa halb acht.«
»Willst du denn nichts essen?«
»Ich habe gegessen, bevor ich hergekommen bin. Außerdem habe ich vorhin in der Küche ein bisschen Suppe gegessen. Es ist alles okay, ich will nur …« Sie zögerte und drehte sich zu mir um. »Wir hatten heute Morgen Institutssitzung … Bonde Madsen hat erzählt, dass die Polizei sich vor Hinweisen aus der Bevölkerung kaum retten kann. Alle scheinen Männer mit Hautverfärbungen zu kennen. Auch das Gesundheitsamt hat sich gemeldet. Laut ihren Informationen wurde in Dänemark kein einziges Mal die Freigabe von Clofazimin gestattet, auch nicht zu Forschungszwecken. Und dann hat dein Chef tatsächlich noch gesagt, dass die Polizei inzwischen große Zweifel hat, dass es sich bei dem roten Zeug wirklich um Clofazimin handelt. Sie glauben, dass ich mich geirrt habe.« Sie sah mich an, ihre Verärgerung war echt. »Als würde ich Fehler machen. Aber … äh …«
Sie wandte sich einen Augenblick ab und sah mich dann mit dem verschämten Gesicht an, das sie immer aufsetzte, wenn sie ein
naughty girl
gewesen war, wie sie das
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