Toter Mann
als hätte er in einem anderen Körperteil Migräne. Der Schmerz pulsierte durch seine linke Seite, aber Winter hielt Richardsson an der Schulter fest. In der Rechten hielt er die Pistole. Richardsson schien sein Gleichgewicht wiedergefunden zu haben. Es war nicht vorgetäuscht. Nichts von dem, was er tat, war vorgetäuscht. Winter hatte vorher erwogen, ihn festzubinden, wenn er etwas zum Festbinden fand. Er konnte dem Politiker einen Knebel verpassen. Aber es wäre ohnehin keine Zeit dafür gewesen. Jetzt ging es um Ademar vor dem Haus. Und um das, was ihm folgen würde.
Winter nahm sein Handy heraus. Es war ein toter Gegenstand.
Aus den Augenwinkeln nahm er eine Bewegung wahr.
Die Scheibe zersplitterte!
Er hatte den Schuss gehört, bevor das Glas zu Bruch ging. Nicht die ganze Scheibe, die Kugel hatte nur die obere Hälfte getroffen. Winter spürte einen Luftzug im Gesicht. In den toten Zweigen einer Birke hinter Ademar bewegte sich der Wind. Ademar sah aus wie ein lebendiges Fragezeichen. Sein Mund bewegte sich. Er schien nach Worten zu suchen, während er auf die Scheibe starrte. Dann drehte er sich um.
All das geschah innerhalb weniger Sekunden. »Runter!«, schrie Winter. »Hinlegen!«
Richardsson warf sich zu Boden. Winter blieb gegen die Wand gedrückt stehen, den Ausschnitt dort draußen im Visier, und versuchte, etwas hinter Ademar zu erkennen. Nichts rührte sich.
Noch ein Schuss!
Die Kugel pfiff durch das leere Fenster und weiter durch den Raum, krachte durch das Fenster auf der anderen Seite und riss einen Splitter aus der Bergwand. Das Ganze spielte sich wie in Zeitlupen tempo ab.
»Oh, Gott, mein Gott«, hörte Winter Richardsson auf dem Fußboden stöhnen. Er schaute nach unten. Es sah aus, als wollte Richardsson sich hinknien.
»Liegen bleiben!«
Gott kann dir nicht helfen, dachte Winter. Uns nicht helfen.
Nur wir selber können uns helfen. Aber wie? Hastig sah er sich um. Hier würde er nichts Brauchbares finden, vier wertlose Wände, zwei zerschossene Fensterscheiben und eine geschlossene Tür, das war alles. Lejon konnte sich zwischen Haus und Bergwand hindurchschlängeln und das Feuer von hinten eröffnen, genauso gut konnte er auch weiter von der Vorderseite auf sie schießen. Vielleicht war er nicht allein. Auf jeden Fall konnte es niemand anders als Lejon sein. Sie waren belagert. Verrückt war das. Wie bin ich, wie ist Ademar hier hineingeraten? Er stand wie eine erstarrte Salzsäule auf der Lichtung. Die Sonne schien auf ihn herunter und er sah aus, als wäre er mit Gold überzogen. Blattgold. Er schien auf den nächsten Schuss zu warten, der ihn in den Rücken treffen würde.
»Winter!«
Zuerst glaubte Winter, Ademar hätte ihn gerufen. Aber Ademar drehte sich in Richtung Dschungel um, woher der Ruf gekommen war. Hinter dem Schriftsteller konnte Winter niemanden entdecken.
»Winter! Ich weiß, dass Sie da sind!« Es war Lejons Stimme.
»Lassen Sie die Pistole fallen!«
»Das ist er!« Richardsson schaute vom Fußboden auf. »Er wird uns erschießen! Lassen Sie die Pistole nicht fallen!«
Und wenn ich sie fallen lassen würde, dann direkt vor deiner Nase, dachte Winter. Aber das war keine Lösung. Richardsson taugte nicht für ein Feuergefecht.
»Ich habe meine fallen gelassen!«, rief Lejon. »Sie hat ihre Schuldigkeit getan!«
Winter versuchte ihn anhand der Stimme zu orten. Aber er konnte nur die halbe Szene überblicken.
»Was wollen Sie?«, rief er.
Richardsson zuckte zusammen. Die Stimme hatte wie ein Pistolenschuss geklungen. Winter spürte die Waffe in seiner Hand. Sie war eine Sicherheit, aber er wusste nicht, ob das ausreichte. Er dachte an das Boot der Küstenwache. In diesem Augenblick musste es den Anleger von Brännö anlaufen. Vielleicht zu spät, bei laufendem Motor würde man an Bord die Schüsse nicht hören. Was würden sie tun, wenn er nicht auftauchte? Warten? Verstärkung holen? An Land gehen und nach ihm suchen? Es würde einige Zeit dauern, ehe sie bis zur Bönekällan kamen. Vielleicht würden sie erst den anderen Teil der Insel durchkämmen. Sandviksdalen. Es war plausibel, dass er dorthin gegangen war, weil sich dort das ehemalige Sommerlager befunden hatte.
»Winter! Wie steht's?!«, rief Lejon. »Wie geht es Ihnen beiden?«
Winter antwortete nicht. Er kniete sich hin und rutschte vorsichtig unterhalb des Fensters zur anderen Seite hinüber. Hinter einem dicken Baumstamm nahm er eine Bewegung wahr, einen Arm oder einen Zweig, der sich im
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