Toter Mann
geglitten. Er spürte sie wie eine weiche Woge heranrollen. Noch war sie langsam, wie ein Brausen über einem Strand. Es ging nicht um Lars. Es war der Stress, der sich in den vergangenen Tagen aufgebaut hatte. Die Spannung. Schlafmangel. Mangel an Nahrung, Flüssigkeit. Alles. Jetzt fühlte er, dass die Attacke kam, eine stärkere Woge. Er schloss die Augen. Sie überspülte ihn. Sie verschwand an dem Strand, der nun aus Klippen und nicht mehr aus weichem Sand bestand. Er konnte wieder atmen. Ihm war klar, dass Richardsson ihn anschaute. Er öffnete die Augen.
»Was ist?«, fragte Richardsson. »Nichts.«
»Geht es Ihnen nicht gut? Sie sehen schlecht aus.«
»Mir geht es gut.« Winter spähte aus dem Fenster. Draußen rührte sich nichts. In seinem Schädel verharrte die Welle. Im Augenblick bewegte sie sich nicht. »Mir geht es gut.« Er drehte sich wieder zu Richardsson um.
»Was meinen Sie, warum Lejon Sie ausgerechnet hierhergebracht hat?«
»Ich weiß es nicht.«
»Sie wissen es! Antworten Sie mir, verdammt noch mal!«
Die zweite Woge krachte wie Beton auf seinen Schädel herunter. Für Sekunden setzte sie ihn außer Gefecht. Er war nahe daran, das Gleichgewicht zu verlieren, tastete nach etwas, an dem er sich festhalten konnte. Es schien die Wand zu sein, aber er fand keinen Halt. Er fiel. Bis zum Fußboden war es ein weiter Weg. Er stützte sich mit der linken Hand ab. Aaauu!!! Die Schmerzen trafen in seinem Körper aufeinander. Er sah rot. Aus seinem Magen schoss Übelkeit hoch. Er versuchte zu atmen. Er atmete heftig und versuchte, den Brechreiz zu unterdrücken. Jetzt spürte er den Fußboden. Wieder griff er nach der Wand.
Er stand auf. Öffnete die Augen. Sie brannten von den Tränen, die wie Salzwasser waren, als wäre er unter Wasser getaucht. »Meine Güte«, sagte Richardsson. »Sie sind krank.«
Winter schüttelte den Kopf. Jetzt schüttelte er den Kopf. Er meinte nein, aber es war ein Ja.
»Sie müssen sich hinlegen«, sagte Richardsson.
Der richtige Mann am richtigen Ort, dachte Winter. Richtig krank zum richtigen Zeitpunkt. Lejon würde den Lauf an seine Stirn halten, und er würde den kühlen Stahl willkommen heißen. »Es .. 0 es geht vorbei.« Er stützte sich mit der Rechten an der Wand ab. Seine Linke war unbrauchbar. Vielleicht hatte er sich beim letzten Sturz das Handgelenk gebrochen. Er hatte ja genügend Anläufe unternommen.
Winter versuchte, einen Punkt vor der Tür zu fixieren. Er bestand aus mehreren Punkten. Erneut schloss er die Augen. Sein Blick klärte sich. Die Punkte flossen zusammen. Es war still, es war ein wunderbarer Herbsttag. Überall grünte es noch. Es war ein gespenstischer Ort, an dem die Natur nicht sterben konnte. Er hoffte, dass es auch für ihn galt.
Er fixierte Richardsson. »Was ist passiert?«
Richardsson sah ihn an, als fürchtete er, er würde wieder zu Boden fallen.
»Was hat Lejon gesagt?«
Richardsson sah ihn nicht mehr an, sondern an ihm vorbei, aus dem Fenster. Sein Körper, sein Gesicht waren erstarrt. Er hob die Hand und zeigte hinaus. Langsam drehte Winter sich um.
Jacob Ademar kam vorsichtig zwischen den Bäumen näher.
45
Richardsson stand neben Winter. Der Mann verströmte einen strengen Geruch, der mehr von panischer Angst als von mangelnder Hygiene herrührte. Winter erkannte den Geruch, den Gestank, aber er hatte ihn noch nie so stark wahrgenommen wie jetzt.
Der Gestank stieß den Schmerz in seinem Kopf beiseite. Der Schmerz schien von ihm abzufallen, in dem roten Fußboden zu versinken. Die panische Angst eines anderen Menschen linderte seine Migräne. Er würde es denen, die unter Migräne litten, mitteilen. Er war nicht krank. Im Moment bewegte sich Ademar in seinem Blickfeld. Der Schriftsteller spähte wie ein Jäger in alle Richtungen. Er blieb stehen, als würde er lauschen. Dann drehte er sich um, in die Richtung, aus der er gekommen war. Nur wilde Natur.
»Kennen Sie ihn?«, flüsterte Winter.
Richardsson antwortete nicht. Winter wusste nicht, ob er den Autor sah. Er spähte genau wie Ademar in alle Richtungen, als wäre Ademar nur die Vorhut.
»Sie müssen es mir sagen, wenn Sie ihn kennen«, flüsterte Winter.
»Nein, ich kenne ihn nicht. Wer ist das?«
In dem Augenblick schaute Ademar zu dem Fenster. Er stand ganz still, als hätte er etwas bemerkt, eine Bewegung.
»Er sieht uns.« Ein Zittern überlief Richardsson. Winter packte ihn mit seiner Linken an der Schulter. Das verletzte Handgelenk fühlte sich an,
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