Toter Mann
gesagt. Hier geht es nicht um irgendein Buch. Es muss zu mir kommen. Ich kann nicht zu ihm kommen. Verstehst du? Vielleicht hatte sein Verleger ihn verstanden. Sie kannten sich noch nicht lange, eigentlich eine lächerlich kurze Zeit, wenn man bedachte, dass sie über sein Buch diskutieren sollten. Innerhalb eines Jahres hatten im Verlag große Umwälzungen stattgefunden. Es herrschte Chaos. Wie konnten sie von ihm verlangen, mitten in diesem Chaos Kunst zu produzieren? Hinterher hatte er sein Auto im Parkhaus abgestellt, wo er noch immer einen Parkplatz gemietet hatte. Niemals würde er es wagen, sein Auto hier vor der Tür zu parken, neben dem verrückten Nachbarn, der eines Nachts mit einem Baseballschläger auf den Wagen losgehen könnte.
Winter erwachte mitten aus einem neuen Traum. Jemand hatte etwas gesagt, was ihm nicht entgehen durfte, doch er bekam die Antwort nicht mit. Es war die Antwort auf eine Frage, die er gestellt hatte. Alles war weg. Seine Träume waren wie abgeschlossene Erzählungen, die aufeinanderfolgten. Eine Novellensammlung ohne Thema. Eine Geschichte spielte sich im Himmel ab, eine andere in der Hölle. Neben ihm bewegte sich Angela. Sie murmelte etwas, vielleicht war es die Antwort. Er konnte sie nicht verstehen.
Heute Nacht war er ... härter gewesen als seit langem. Er war noch nicht tot. Er funktionierte noch immer, wie ein Mann zusammen mit einer Frau funktionieren sollte. Sie hatten sich leise verhalten, um die Kinder nicht zu wecken. Es erhöhte die Spannung. Es verlängerte ihren Genuss. Das war das wahre Leben. Ein Zustand wie kurz vor dem Tod. Ihm schien es, als hätten sie beide gleichzeitig den Höhepunkt erreicht. Er fragte nicht. Nach so etwas fragte er nicht. Danach war Angela fast unmittelbar eingeschlafen, und er war aufgestanden und hatte ein Glas Wasser getrunken. Er hatte erwogen, von dem Riesling zu trinken, den es zum Essen gegeben hatte, das er nicht angerührt hatte, ließ die Flasche jedoch im Kühlschrank stehen. Er blieb am Küchentisch sitzen und betrachtete den Nachthimmel durch das Fenster. Die schwachen Lichter aus dem Innenhof verliehen der gegenüberliegenden Fassade einen schwachen gelben Schimmer. Nachtfarben, gelb und schwarz. Aber der Himmel darüber wurde nie richtig dunkel. Das war der Preis, den man dafür bezahlte, wenn man mitten in einer Großstadt lebte. Jetzt war es friedlich. Im Augenblick hatte er keine Kopfschmerzen. Er würde kein Krankenhaus aufsuchen, um sich der Maschinerie auszuliefern, aus der er vermutlich nie mehr herauskommen würde. Sein Leben - ihr gemeinsames Leben - würde sich von Grund auf verändern. In den Grundfesten erschüttert werden. Aber nicht von dieser Sache, dafür war sie zu unwichtig. Und wieder schlug der Schmerz über dem Auge zu. Mitten in der friedlichen Stille. Er massierte den Schmerz, falls das möglich war. In aller Ruhe massierte er seine Stirn. Er war ruhig. Es würde vorübergehen. Migräne war unangenehm, aber man starb nicht daran. Er hätte weder Angela noch die Kinder zu beunruhigen brauchen. Es war ganz unnötig gewesen. Er hatte das Problem selbst gelöst, löste es in diesem Moment. Er massierte den Schmerz weg. Das Handy auf der Anrichte neben ihm vibrierte und erhellte die Küche mit einem festlich blinkenden Licht.
»Ja?«
Es war Bertils Nummer.
Winter warf einen Blick auf die Wanduhr, halb vier. Bertil war wieder im Dienst. Er wollte es so.
»Auf dem Parkdeck unter dem Pädagogischen Institut ist ein Mann in einem Auto erschossen worden«, sagte Ringmar. »Wisst ihr, wer es ist?«
»Der Autohalter ist Jan Richardsson.« »Das ist ja ein Ding.«
»Ich weiß nicht, ob es Richardsson ist. Aber einiges spricht offenbar dafür.«
»Wann ist es passiert?«
»Irgendwann im Lauf der Nacht oder gestern Abend.« »Und wann hast du es erfahren?«
»Gerade vor ein paar Minuten. Der Diensthabende hat angerufen. Der Sicherheitsdienst hat Alarm geschlagen. Wir haben das ganze Parkhaus abgesperrt, es sind zwei Etagen. Ich bin unterwegs.«
»Ich mach mich auch auf den Weg.« Winter stand auf. »Wie sieht es vor Ort aus?«
»Ich weiß es nicht. Torstens Leute sind wohl schon da. Und Pia.«
Pia Fräberg, die Gerichtsmedizinerin, war an fast allen Tatund Fundorten anwesend gewesen, an denen Winter sich in den vergangenen zehn Jahren ebenfalls aufgehalten hatte. Sie arbeiteten gut zusammen. Vor langer Zeit hatten sie kurz ein Verhältnis miteinander gehabt, an das sich keiner von beiden erinnern
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