Toter Mann
am Küchentisch. Sie schaute auf, als Winter die Flaschen auf die Anrichte stellte.
»Ich zeichne Pferde«, sagte sie. »Lilly hat ganz viele Stunden geschrien.«
»Darf ich mal sehen?«
Er hob eine Zeichnung hoch. Das Pferd war sehr groß. Eine Primaballerina drehte Pirouetten auf seinem Rücken. Eine schwierige Übung.
»Das da bin ich«, sagte Elsa. »Wo hast du das denn gelernt?« »Im Zirkus!«
»Okay.« Er nahm die Sachen aus der Tüte. »Möchtest du Tapas mit Käse oder Krabben?« »Käse!«
»Bitte, schrei nicht so!«
»Hast du Kopfschmerzen, Papa?«
»Nein, nicht mehr. Das war bloß Einbildung.« »Was bedeutet Einbildung?«
»Dass man an etwas glaubt, was es eigentlich nicht gibt, Mäuschen.«
Ein neuer Altweibersommertag brach an. Winter nahm den Weg mit dem Fahrrad über Heden. Ein Junge ließ seinen Drachen hoch über den weißen Häusern auf der anderen Seite steigen. Der Drachen beschrieb einen Kreis. Die Leine musste fünfhundert Meter lang sein. Der Junge lächelte, als Winter vorbeifuhr. Der rote Drachen am Himmel sah wie eine untergehende Sonne aus.
In seinem Büro wählte Winter Birgerssons Privatnummer, zum ersten Mal, seit der Chef das Dezernat verlassen hatte. Winter war keinesfalls überzeugt, dass jemand abheben würde. Vielleicht nie mehr. Birgersson konnte in Lappland sein oder auf Timar. Jetzt würde er reisen, so viel er konnte, hatte er gesagt: Dann stirbt man langsamer.
»Hallo?«, meldete sich nach nur drei Klingelzeichen eine Stimme. Sie klang abweisend.
»Sture? Hallo, hier ist Erik.«
»Hallo, Erik.« »Wie geht's dir?« »Bis jetzt gut.« »Störe ich?«
»Kommst du allein nicht klar?« »Nein, Sture.«
»Ich bin nicht mehr zuständig. Du musst jetzt groß und stark sein und die Verantwortung übernehmen. Ich werde eine lange Reise machen.«
»Wohin?«
»Sie beginnt in Malaysia. Dann sehe ich weiter.«
»Bertils Sohn ist Koch in einem Hotel in Kuala Lumpur.« Birgersson schwieg.
»Wann fährst du?«, fragte Winter. »Morgen.«
»Ich möchte dich kurz treffen und etwas fragen.«
»Sie ist verschwunden.« Birgersson setzte die Teetasse ab. Er beobachtete eine Frau, die vorüberging. Nach zehn Metern drehte sie sich um, als hätte sie Augen im Nacken. »An einem Sommerabend, im Juli, glaube ich. Die Details musst du dir selber zusammensuchen. Aber sie verschwand.«
»Wie ist das passiert?«
Birgersson schaute hinaus auf die Straße, oder eher weit in die Ferne, vielleicht war er in Gedanken schon im Eastern & Oriental Hotel in Georgetown angekommen.
Dann wandte er sich wieder Winter zu.
»Das weiß niemand, Erik. Wir mussten den Fall zu den Akten legen. Es war übrigens kein Fall, wurde keiner.«
»Warum nicht?«
»Warum nicht? Weil es kein Opfer gab.« Birgerssons Stimme schwoll an, klang fast gereizt. »Keine Leiche. Niemand wusste, was mit dem Mädchen passiert war.«
»Beatrice.«
»Hat sie so geheißen? Ja, vielleicht, Beatrice. Sie hatte einen seltsamen Nachnamen.«
»Ademar. Beatrice Ademar. Aber sie nannte sich Beatrice Kolland.«
»Sie war noch jung, fünfzehn, glaube ich, vielleicht vierzehn. Anscheinend erinnere ich mich doch an mehr, als ich gedacht habe.« Birgersson beugte sich vor. »Warum fragst du danach? Das war lange vor deiner Zeit.«
»1975«, sagte Winter. »Da war ich selber fünfzehn.« »So jung bin ich nie gewesen«, sagte Birgersson.
»Ihr Bruder schreibt ein Buch darüber.«
»Über ihr Verschwinden?«
»Ja.«
»Er war doch nicht dort? In dem Sommerlager ? Ich erinnere mich an keinen Bruder.«
»Er war nicht dort, soviel ich weiß. Aber sie war seine Schwester.«
»Kennst du ihn?« »Eigentlich nicht.«
»Was ist denn das für eine Antwort?«
»Er spielt eine gewisse Rolle in einem Fall, mit dem ich gerade beschäftigt bin. Mehrere Fälle. Sie hängen mit dem Mord in der Parkgarage unter dem Pädagogischen Institut zusammen.« »Darüber habe ich gelesen. In den ersten Tagen hat sich die Göteborg Tidningen ja fast überschlagen.«
Birgersson nahm wieder einen Schluck Tee und zog eine Grimasse. Der Tee war kalt geworden. »Wahrscheinlich wird es ein ganz dünnes Buch. Wir hatten nicht viele Hinweise. Es war ein Mysterium.«
»Bist du sicher?«
»Wie meinst du das, Erik?«
»Ich weiß nicht, ob es wirklich ein Mysterium ist. Ich weiß nicht, warum ich all das frage. Es ist ... ich kann einfach nicht aufhören, daran zu denken. Als würde es zusammengehören, als ob alles zusammengehören würde.«
»Alles
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