Toter Mann
merkwürdig, als stünde es für etwas, woran er nicht erinnert werden wollte. Vielleicht war es so. Vielleicht hatte es jemand auf Edwards abgesehen. Oder Edwards hatte jemanden ins Visier genommen. Aber wo bestand der Zusammenhang mit Sellberg? Und/oder mit Richardsson, mit dem Schriftsteller Ademar? Ging es noch um etwas anderes als einen Konflikt zwischen Nachbarn? Winter wusste, dass es gefährlich war, bei einer Ermittlung nach Zusammenhängen zu suchen, die vielleicht nie bestanden hatten. Edwards' Auto wurde gestohlen und auf einer Brücke wiedergefunden. Aber die Unterwelt war groß genug, um dieselbe Pistole bei drei verschiedenen Taten zu benutzen. Ein Verbrechen war in den meisten Fällen ein Werk des Zufalls. Verbrechen waren fast nie rational, nicht aus der Sicht der Oberwelt.
»Danke, Torsten.« Beim Telefonieren musste er das Fenster auf der Fahrerseite heruntergelassen haben. Der Duft aus der Bäckerei war jetzt so stark, dass er nicht widerstehen konnte. Er stieg aus, ging in den Laden und kaufte sich eine Vanillecremeschnitte.
Vanillecremeschnitten mochte er am liebsten. Der Zuckerguss, die weiche Konsistenz, innen wie zur Belohnung die Creme. Er öffnete die Tüte, biss in den Kuchen und spürte den Zucker auf den Lippen. Vor wenigen Minuten hatte er sich noch nach einem Corps gesehnt, aber etwas Süßes war gesünder, jedenfalls für die Lungen. Der Kuchen befriedigte ein orales Bedürfnis, das auf viele verschiedene Arten befriedigt werden konnte. Er biss noch einmal ab und sah Berit Richardsson in einem blauen Clio vorbeifahren.
Er sah nur ihr Profil, aber sie war es. Ihn schien sie nicht bemerkt zu haben. Er stand unter der Markise der Bäckerei, in deren Schatten er nicht zu erkennen war. Die Sonne strahlte Berit Richardsson wie ein Scheinwerfer ins Gesicht. Viel sehen konnte sie bestimmt nicht hinter ihrer Sonnenblende, jedoch genug, um sich nach links einzuordnen. Sie wohnt hier nicht, dachte Winter. Es ist der Weg zur Lovisagatan, zu Sellbergs Haus. Dorthin war ich unterwegs. Er steckte den angebissenen Kuchen zurück in die Tüte und trat in den unbarmherzigen Sonnenschein hinaus, setzte sich ins Auto und startete. Berit Richardssons Clio fuhr den Hügel hinauf. Winter folgte ihm, bog nach rechts und nach links ab und wieder nach rechts in die Lovisagatan ein. Er hielt einige Meter vor der Kreuzung hinter einem parkenden Auto an. Von hier aus konnte er quer über die Gärten blicken und beobachten, wie Berit Richardsson an Sellbergs abgesperrtem Haus und an Ademars Haus vorbeifuhr. In der Wendezone drehte sie und kam zurück. Sie fuhr langsam. Winter konnte nicht erkennen, ob sie zu den Häusern schaute, das Gegenlicht war zu stark. Sie fuhr an ihm vorbei. Er machte sich so klein wie möglich auf dem Fahrersitz und wartete einen Moment, bevor er ihr erneut folgte, an der Katholischen Schule vorbei und weiter in Richtung Bö, vermutlich derselbe Weg, den sie gekommen war. Es war nicht weit von ihrem Haus zur Lovisagatan, weder per Luftlinie noch mit dem Auto.
Sein Handy klingelte. »Ja?«
»Erik!«
»Hallo, Mama.«
»Es war nicht ganz einfach, einen geeigneten flight zu finden, aber jetzt hab ich einen für morgen Abend gebucht.« »Gut, Mama.«
»Ich freu mich so.«
»Wir freuen uns auch.«
»Was ist, Erik? Du wirkst abwesend.«
»Ich habe gerade eine Person beschattet, Mama.«
»Wie das klingt. Sagt man das noch? Dass man jemanden beschattet?«
»Heute zumindest«, antwortete Winter. »Heute gibt es viele Schatten in Göteborg.«
»Habt ihr immer noch so schönes Wetter?«
»Es soll noch ein paar Wochen so bleiben. Vielleicht hört es nie auf.«
»Dann ist es in Schweden wie hier«, sagte Siv Winter.
»Du wirst bestimmt das Gefühl haben, nach Hause zu kommen«, sagte ihr Sohn.
»Ja ... ja, so wird es sein. Jedenfalls komme ich! Lotta ist lieb, ich kann für den Anfang bei ihr wohnen.«
Für den Anfang. Es klang, als sei es der Anfang vom restlichen Leben. Vielleicht war es gut. Es fühlte sich anders an, wenn ein Elternteil im selben Land lebte. Seit dem letzten Mal waren viele Jahre vergangen.
Er bewegte sich so vorsichtig wie möglich. Hatte der andere ihn gesehen? Nein. Da, wo er stand, war er nicht zu sehen. Und der andere stand im Schatten, er war schwarz, eine schwarze Gestalt.
Jetzt ging der andere weg. Nach hundert Metern bog er ab und ging den Hügel hinauf. Er schien keine Eile zu haben. Einmal blieb er stehen, es sah aus, als redete er mit sich selber,
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