Toter Mann
gehört zusammen, mein Junge. Das habe ich dir fünfzehn Jahre lang gepredigt. Mysterien oder Puzzle, alles liegt in Gottes Hand.«
»Was also ist auf Brännö passiert?«, fragte Winter. »Wie viel habt ihr herausbekommen?«
»Fast nichts, wie gesagt. Das Mädchen verschwand an einem Abend aus dem Sommerlager. Aus dem Schlafsaal, glaube ich. Die armen Kinder mussten offenbar früh ins Bett. Ich weiß übrigens nicht, ob es so was noch gibt. Sommerlager gehören wohl eher in die alte, böse Welt. Okay, ein Zeuge meinte, sie gesehen zu haben, wie sie einen Pfad vom Lager in Sandvik über den Berg nach Husvik entlanggegangen ist. Er hat jedenfalls ein einsames Mädchen gesehen. Der Pfad hatte einen besonderen Namen, Liebespfad. Kennst du ihn?«
»Den bin ich selbst viele Male gegangen«, sagte Winter.
»Ach ja, das hätte ich mir denken können. Jedenfalls hat jemand das Mädchen in der Dämmerung über den Liebespfad nach Husvik gehen sehen.« Birgersson hielt eine Hand wie ein Stoppschild in die Luft. »Dort enden alle unsere Spuren.«
»Alle Spuren?«
»Ja. Sie ist nie wieder aufgetaucht. Wir haben sie nicht gefunden.«
»Was trug sie, als sie verschwand?«
»Die Leute im Sommerlager haben ausgesagt, sie habe einen Badeanzug angehabt und einen Bademantel, der dem Lager gehörte. Das war das Einzige, was in ihrem Schrank fehlte. Weder Koffer noch sonst was. Nur ihr Badeanzug.«
»Sie wollte also schwimmen gehen«, sagte Winter. »Baden.« »Scheint so. Aber sie hat sich aus dem Lager davongestohlen. Das war nach sechs Uhr abends nicht erlaubt, oder sieben. Ich erinnere mich nicht genau.«
»Vielleicht war es so. Sie ist schwimmen gegangen. Ich glaube, dass sie ins Wasser gesprungen ist.«
»Alles ist möglich, Erik.«
»Aber warum hat sie nicht in Sandviksdalen gebadet? Dort hat es doch einen richtigen Badeplatz gegeben. Vielleicht gibt es ihn immer noch.«
»Wir haben sie überall gesucht, Erik. Mein Gott, wir haben die Insel kreuz und quer durchkämmt, alle Holme und kleineren Inseln weitgehend abgegrast, ganz zu schweigen von der Suche im Sund, den Buchten zwischen Husvik und Sandvik, dem KällöSund, und die Buchten Södholmarna, Svensholmen, Stenskär ... kennst du die Schären da draußen?«
»O ja. Wir hatten einige Jahre ein Sommerhaus in Tången auf Styrsö. Von der Veranda konnte ich Stora Källö sehen. Mensch, ich habe mehrere Sommer an diesem Sund verbracht. Ich war dort, Sture. In dem Sommer, als sie verschwand, war ich dort. Vielleicht bin ich genau an dem Abend in einem Kajak vorbeigekommen.«
»Interessiert dich der Fall deswegen so?«
»Ich weiß es nicht. Ich weiß es wirklich nicht.«
»Jedenfalls musste ich den Fall zu den Akten legen. Es war, als wäre sie plötzlich ins Meer gezogen worden. Oder hinauf in den Himmel verschwunden. Es war ein ungutes Gefühl. Wir konnten nichts finden, aber ich habe immer geglaubt, dass wir es mit einem Verbrechen zu tun hatten. Sie ist nicht freiwillig abgehauen.«
»Was haben die anderen Kinder im Sommerlager ausgesagt? Oder die jugendlichen?« »Niemand wusste etwas.«
»Hatte sie niemanden, dem sie vertraute? Eine beste Freundin?«
»Daran erinnere ich mich nicht, Erik. Vielleicht steht etwas in den Zeugenaussagen. Aber ich hab so ziemlich alles vergessen.« Birgersson gab einen Laut von sich, der wie ein Seufzen klang. Ein heftiges Ausatmen. »Das war nicht der erste Vermisstenfall, mit dem ich zu tun hatte, und wahrhaftig auch nicht der letzte, aber es war natürlich sehr unbefriedigend.«
Winter nickte. Menschen verschwanden. Das vergaß ein seriöser Fahnder nie. Wo war die betreffende Person, er oder sie? Und warum? Mussten sie im Leben oder im Tod suchen?
»Was haben die Leute vom Sommerlager gesagt?«, fragte Winter.
»Nicht viel. Ungefähr das, was ich dir schon erzählt habe. Niemand wusste, was passiert ist, nachdem sie das Lager verlassen hat.«
»Was ist vorher passiert?«
»Wie meinst du das?«
»Bevor sie verschwand. In den Stunden oder Minuten vorher. Ist etwas passiert? Gab es einen Anlass, dass sie abgehauen ist? Vielleicht wollte sie fliehen? Möglicherweise ist sie weggegangen, weil sie wütend war?«
»Nicht soweit ich mich erinnere«, sagte Birgersson. »Aber was ist mit deinem Autor. Kann er deine Fragen nicht besser beantworten?«
Winter schwieg. Er dachte an das Mädchen, das wenige Minuten, bevor es vom Erdboden verschwand, den Liebespfad entlanggegangen war. Er schlängelt sich über den Berg, von Bucht zu
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