Totes Meer
Lieblingsthemen. Ich habe es bei sozialen Veranstaltungen immer gerne diskutiert – einmal habe ich sogar extra eine Party gegeben, damit wir beim Essen darüber reden konnten. Traurigerweise sind die meisten meiner Kollegen inzwischen tot.«
Er zog einen Moment lang schweigend an seiner Pfeife. Er schien in Gedanken versunken zu sein.
»Aufgrund dieser Archetypen«, fuhr er dann fort, »teilen alle Individuen gewisse weit verbreitete Vorstellungen über die Menschen. Zum Beispiel wurden in jeder Kultur, die es jemals gab, gewisse Eigenschaften wie Mut, Kraft und Tapferkeit dem Idealbild eines Kriegers zugeschrieben. Auf einer unbewussten Ebene wissen alle Menschen, dass die Figur des Kriegers ein Teil unserer Rolle als Menschen ist, und deshalb erkennen wir gewisse Attribute, die einen Krieger ausmachen. Ein Soldat in den Nachrichten. Ein Basketballspieler in den Playoffs. Wir reagieren darauf. Und ob es uns gefällt oder nicht, es ist unsere Aufgabe, zu versuchen, diesen Attributen in unserem Leben gerecht zu werden, erfolgreich oder nicht. Verstehen Sie?«
»Als wir uns das erste Mal getroffen haben, meinten Sie, ich sei ein Archetyp.«
»Das sind Sie allerdings. Sie haben diese Attribute – und gehen auf eine Reise der Selbsterkenntnis. Während die Welt in Trümmern liegt, Lamar, werden Sie wiedergeboren. Das ist eine ganz klassische Geschichte, eine, die jeden Menschen anspricht. Sie sind der Held.«
»Ganz ehrlich, Professor, ich fühle mich momentan nicht besonders heldenhaft. Ich konnte ja nicht mal dieses kranke Arschloch erschießen, das Tum umgebracht hat.«
»Sie fühlen sich vielleicht nicht wie ein Held. Aber trotzdem sind Sie einer. Der Held ist der universelle Archetyp, der die meistgeschätzten Eigenschaften einer Kultur oder Gesellschaft verkörpert. Aber der Held wird nicht einfach geboren. Der Held muss erschaffen werden, wenn Sie so wollen, im Feuer von Aufruhr und Prüfungen geschmiedet werden. Um das zu erreichen, muss er sich auf eine Suche begeben, was wir ja auch gerade tun.«
»Ich bin also auf einer Suche. Und was suche ich?«
»Tja, meine bevorzugte Autorität auf diesem Gebiet, Joseph Campbell, bezeichnete diese Suche als die Heldenreise. Verschiedene Reisen liefern am Ende verschiedene Schätze. In Ihrem Fall sind Sie auf der Suche nach Selbsterkenntnis. Campbell war der Meinung, dass die Grundstruktur dieser Reise immer gleich ist, egal, aus welcher Kultur oder Zeit man stammt, und sie somit ein Archetyp ist. Er nannte es einen Monomythos. In seiner einfachsten Form erhält der Held während seiner Suche einen Aufruf zum Abenteuer. Typischerweise wird dieser zurückgewiesen, oder der Held zögert, ihm zu folgen. Er erhält übernatürliche Unterstützung und überschreitet eine Schwelle, erleidet Strapazen und Widrigkeiten und kehrt dann heim, mit Geschenken und segensreichen Gaben für sein Volk.«
»Das klingt nicht sehr nach Selbsterkenntnis, Professor.«
»Ja, vielleicht. Aber wesentlich für das Bild des Helden ist die Tatsache, dass er eine Reise antritt, die ihn von zu Hause und aus seiner Alltagswelt wegführt - und dass er eine fremde Welt betritt oder, wie Campbell es nannte, ›das übernatürliche Wunder‹. Ich denke, Sie werden mir zustimmen, dass Sie momentan etwas in dieser Art erleben. Finden Sie nicht? Denken Sie darüber nach. Sie haben Ihre Heimat verlassen, alles zurückgelassen, was Sie kannten. Sie sind in eine völlig neue Welt geworfen worden, müssen sich um eine neue Familie kümmern -«
»Sie sind nicht meine Familie«, unterbrach ich ihn. »Ich bin nicht gerade die beste Wahl, wenn es darum geht, sich um Kinder zu kümmern.«
»Und trotzdem sind Sie derjenige, und sie wollen auch, dass Sie es sind. Und Sie sind dieser Verantwortung nicht aus dem Weg gegangen, auch wenn Sie das leicht hätten tun können. Sie sind für sie da. Sie existieren für sie weiter, egal, ob sie es sich bewusst machen oder nicht. Das ist sehr selbstlos, Lamar. Und das wiederum ist ein wesentlicher Aspekt des Monomythos – die Selbstlosigkeit des Helden. Am Anfang mag er seine Reise vielleicht für sich selbst unternehmen, doch bei seiner Rückkehr bringt er Weisheit und Ordnung zu seinem Volk. Der Held wird also für das ganze Volk erschaffen, nicht nur für den Einzelnen. Mythische Helden bringen große, weltliche Wohltaten von ihrer Reise mit. Dinge, die jeden betreffen,
nicht nur den Mikrokosmos einer kleinen Gemeinschaft.«
»Aber Sie sagten doch, ich sei nur
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