Totgeburt
in der Luft, er konnte es geradezu riechen, sie alle waren auf dem Kriegspfad und gierten nach dem Blut der Menschen.
Bald würde er seinen Teil zu der großen Unternehmung beitragen, wenn er stark genug war. Verwundert über seine Gedanken, steckte er sich eine Zigarette in den Mund. Es war ihm fremd, nein, es war natürlich, es war gut!
Er brach den Versuch ab, sich ein Bild aus den wenigen Gesprächsfetzen zu machen und lauschte stattdessen dem Radio. Zum Teil kannte er die Lieder. Sie waren ein Stück Vergangenheit, Stimmen aus grauer Vorzeit. Eigenartig, da die Vergangenheit ja erst gestern gewesen war.
Er versuchte sich an die Zeit vor seiner Geburt zu erinnern und entschied, dass die Bilder nicht ihm gehörten. Sie gehörten dem Menschen Sebastian und der war nun tot, mehr oder weniger jedenfalls. Er erinnerte sich an die Dunkelheit, an die Hände seines Vaters — von dort kam er. Er war nicht Sebastian und war es nie gewesen.
Drei Namen trug er nun in sich, zwei davon waren neu und der dritte war der eines Toten. Also wer zum Teufel war er nun?
„Ist es normal zwei Namen zu haben?“, fragte er, nachdem sie ihr Telefon beiseite gelegt hatte.
„Was meinst du denn? Du kannst meinetwegen so viele Namen haben, wie du willst.“
„Nein, ich meine bei unserer Geburt.“
„Nein, ein Name. Du hast bestimmt nur einen Doppelnamen erwischt. Lass mal hören.“
Er sagte nichts von dem Namen, den das Nichts ihm gegeben hatte.
„Wieso ist die Klimaanlage auf kalt gestellt?“, fragte er etwas später.
„Die Scheiben würden sonst anlaufen.“
„Du könntest sie doch auf warm stellen. Das funktioniert auch.“
Sie lächelte und drehte die Temperatur nach oben. Nach einer Minute merkte er, dass sich rein gar nichts geändert hatte, ihm wurde nicht wärmer.
„Ist sie kaputt?“
„Nein, du bist kaputt“, sagte sie und begleitete die Sängerin aus dem Radio mit ihrer eigenen Stimme.
„Mir ist es kalt und es wird nicht wärmer.“
„Ich sagte doch, du bist kaputt.“
Nach einiger Zeit sprach sie weiter: „Ok, du hast viel Blut verloren. Ehm, du bist leer.“
Sie lachte kurz.
„Zweitens ist es kack egal, ob es warm, heiß oder kalt ist. Du bist keine Pussy mehr, verstanden? Alles nur eine Kopfsache. Du hast dich einfach noch nicht unter Kontrolle. Du bildest dir ein, es sollte kalt sein, oder so … vielleicht bist auch bloß ein Unfall, hätte dich besser abgetrieben … also, mir geht es glänzend. Nicht kalt, nicht heiß. Das heißt, du musst dringend an dir arbeiten, Mann.“
„Kaputt“, wiederholte er.
Endlich drehte sie das Radio leiser.
„Die Kühlkette“, meinte sie und machte mit dem Kopf eine Bewegung.
Sie wollte ihm etwas zeigen, aber er verstand einfach nicht was.
„Ja, die Kühlkette“, wiederholte sie und stellte die Anlage wieder auf kalt um.
„Häh?“
„Wir haben Fleisch im Kofferraum. Will nicht, dass es anfängt zu stinken.“
Er verstand sie immer noch nicht. Fleisch im Kofferraum?
„War der Kofferraum nicht leer, als wir gekommen sind?“
„Ehhm, ja.“
Sie sah ihn an, als sei er schwer von Begriff. Er wollte sie nicht verärgern und vor allem wollte er nicht dumm dastehen, also schwieg er. Für eine Weile, schwieg auch sie.
„Ich bin müde. Dafür kannst du nichts. Ich habe keine Lust, dir jetzt alles zu erklären. Klar, du hast viele Fragen und du willst Antworten hören. Auf dem Schlauch stehen nervt. Weißt du, ich finde es immer schwer, Neugeborenen die Welt zu erklären. Es langweilt mich, ich kenne die Antworten ja schon. Und dann soll ich jemanden alles von Null an beibringen? Ich bin keine gute Mutter, OK? Und du. Du kannst dir ruhig Zeit lassen. Da steckt noch zu viel von früher in dir. Mach die Augen zu oder guck aus dem Fenster. Wir sind bald da.“
Für ein paar Minuten war sie ruhig und trommelte mit den Fingern auf dem Steuer herum. Dann fiel ihr noch etwas ein.
„Bevor ich es vergesse. Du hast noch keinen Namen. Den von früher brauchst du nicht, der war scheiße. Im Ernst, dein früherer Name war so was von Scheiße, Mann, hab ich den vielleicht gehasst. Der von deiner Geburt ist mehr oder weniger privat. Nenn dich irgendwie anders. Hast du irgendwelche Ideen?“
Noch ein Name? Er war schon verwirrt genug!
„Deswegen hast du mich also nie beim Namen genannt“, stellte er fest.
„Ja, genau, hatte keinen Bock den auszusprechen. Und irgendeine Idee?“
„Nein. Mir fällt gerade nichts ein.“
„Hm. Das ist schlecht.
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