Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Totgeburt

Totgeburt

Titel: Totgeburt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sam E. Maas
Vom Netzwerk:
verirrten.
    Caspar sah sich an das Erlebnis mit der dementen Frau erinnert. Aus dem Schaufenster der edlen Boutique blickend und Espresso schlürfend wurde er Zeuge des kleinen Tumults. Zwei Männer, gehüllt in den Farben und dem Zeichen des Kreuzes, eilten herbei, sprachen ihr wohlwollend zu und nahmen sie mit sich und zwar gegen ihren ausdrücklichen Willen. Alle Menschen endeten so. Für gewöhnlich sah man derlei nicht, weil die Alten an ihre Betten gefesselt oder in den Heimen weggesperrt wurden. Caspar begriff allmählich, dass es keinen Unterschied zwischen den Hüllen am Straßenrand und dem Rest gab, wenige Jahre trennten sie voneinander.
    Die Gebärmaschine sorgte indes für Nachschub, hielt das Kollektiv jung und gesund. Man musste also die Maschine zerstören. Nur wie?
    Er sah sich das Treiben am Straßenstrich an und erlebte die industrielle Abfertigung eines nicht enden wollenden Triebs. Er erinnerte sich an die unzähligen Male, wo er selbst den Dienst der Industrie in Anspruch genommen hatte. Ein paar Mal hatte er eine Bordsteinschwalbe mitgenommen, sie ordentlich durchgerammelt und ihr das Geld wieder abgenommen. Ein anderes Mal hatte er einer besonders Hässlichen eine Flasche an den Kopf geworfen. Caspar schmunzelte. Ja, mit Nutten konnte man seinen Spaß haben. Er liebte es, wie sie ihn anschrien und verfluchten, nach ihm schlugen oder nach seinem davonrasenden Auto spuckten. Plötzlich versteinerte das Lächeln. Wem wollte er etwas vormachen? Er war ein kleines Kind, das mit der Lupe Ameisen jagte, während seine Geschwister — was genau taten seine Geschwister eigentlich?
    Eine Limousine hielt, eine der Arbeiterinnen stieg ein und es fuhr davon. Der Trieb des Menschen nach Reproduktion war seine einzige Waffe gegen die eigene Sterblichkeit. Tod und Sex waren wie ein altes Ehepaar. Sex war die Flucht nach vorne, ein Rennen gegen die Uhr, sie mussten den Fortbestand ihrer Art sichern, ihren Erbteil an der Welt behaupten. Ging dem Menschen dieser Trieb abhanden, blieb nur die willenlose Hülle zurück.
    Ein Auto hielt, eine der Arbeiterinnen stieg aus und das Auto fuhr wieder davon. Wieso taten sie sich das noch länger an, wo sollte das Hinführen, wieso beendeten sie das dämliche Theater nicht ein für alle Mal? Der Mensch war ein blindes und hochmütiges Geschöpf, dessen Dasein dem Herrn der Welt ein Dorn im Auge war.
    Caspar fuhr vor, eine der Arbeiterinnen stieg ein und sie machten sich auf den Weg. Sie ging ihre Preisliste durch, er hörte nicht hin. Sie kamen zum Verrichtungsort. Sie beugte sich vor, öffnete den Reißverschluss und fing an zu blasen.
    Sie hatte kein Talent, nahm ihn nicht weit genug auf, also half er ihr. Er drückte ihren Kopf nach unten, sie bekam angeblich keine Luft mehr, was ihr nicht gefiel, deswegen schlug sie blindlings in alle Richtungen aus.
    Es machte keinen Spaß, Caspar war nicht bei der Sache. Unbeeindruckt von ihren Flüchen, ließ er sie aussteigen. Die Tür schloss sich mit einem lauten Knall. Caspar blickte ihr hinterher. Sie verschwand. Regungslos blieb er sitzen. Die Zeit verging. Andere Autos kamen und verschwanden wieder. Was war schon Zeit, wenn ihm die Ewigkeit gehörte?
    Es waren zu viele, um sie einzeln auszulöschen. Die Maschine musste zerschlagen werden. Man musste es tun, wie sie es am Strich taten, industrielle Abfertigung. Man brauchte eine Maschine, um die Maschine auszulöschen. Man brauchte einen Ingenieur, um diese Maschine zu konstruieren. Caspar war kein Ingenieur. Caspar war nur ein Kind mit einer Lupe. Als er das realisierte, blickte er nach unten. Der Hosenstall war noch immer offen, was zu erwarten gewesen war. Was ihn wunderte, das war sein Freund, die alte Schlange. In voller Größe ragte sie aus ihrer Höhle, umgeben von einem Schleier aus Sekreten. Caspars Augen trafen sich mit dem einem geschlitzten Auge des Biestes. Giftiger Schmerz flammte auf. Die Schlange war zornig auf ihn, hatte er doch die Beute entkommen lassen.
    Er besänftigte seinen Freund und der Schmerz ließ endlich nach.
    Eines dieser miefigen Geschöpfe, die Nutte von eben, hatte es gewagt, ihm zu Schaden. Ihm! Sie hatte ihm ins Gesicht geschlagen, auf die Lippe. Da war die Lippe aufgeplatzt und angeschwollen. Er sah lange in den Spiegel, konzentrierte sich auf den blutigen Rahmen, der seinen Mund umgab. Seine Zunge schmeckte das verklumpte Zeug, er roch und schmeckte es. Merkwürdig, sein eigenes Blut hatte er schon länger nicht mehr gesehen. Auch er war

Weitere Kostenlose Bücher