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Totgeburt

Totgeburt

Titel: Totgeburt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sam E. Maas
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sein sollte, dann würde Marie es früh genug aus den Nachrichten erfahren und wäre nicht mehr auf die Auskunft des Alten angewiesen. Vorausgesetzt sie wurde nicht vorher in Rente geschickt. Viren brauchten Zeit, hatte sie so viel Zeit? Aber wieso lief alles auf die Begegnung mit seiner Schwester hinaus? Sollten sie sich in einem Akt der Sünde vereinen und damit die Seuche auf die Welt entlassen?
    Völliger Unsinn.
    Marie gab sich geschlagen. Heute würde sie das Rätsel jedenfalls nicht mehr lösen. Sie sah sich ihren Bruder an. Er machte sich keine Sorgen, lebte nur für den Moment. Machte es ihm wirklich nichts aus, dass seine Zeit am Ablaufen war? Caspar hielt jedenfalls seinen Kopf aus dem Schiebedach, pfiff und winkte den Frauen hinterher.
    Ihm fiel auf, dass sie ihn beobachtete und er lächelte ihr zu. „Das musst du gesehen haben!“, sagte er und reichte ihr seine Hand, die sie ohne zu zögern annahm. Er zog sie hinauf zur Luke, wo der brausende Fahrtwind sogleich ihr Haar durchwühlte. Es war fantastisch! Das Lichtspiel der Neonreklamen in der dunklen Nacht, die Stadt, sie schien zu brennen, die sündigenden Massen vergnügungssüchtiger Leute, das Hupen der Autos und das Lärmen von Musik. All das riss sie unverzüglich aus ihren schwarzen Gedanken. Caspar hatte recht, Grübeln machte keinen Sinn. ‚Que sera, sera‘, hätte Dennis wohl gesagt.
    Die Fahrt war kurz, zehn Minuten vielleicht. Sie ließen sich an der Straße absetzen, denn Marie wollte den Eingangsbereich unbedingt zu Fuß durchqueren.
    Vor ihnen erhob sich der Obelisk: Ba'als mächtiges Glied ragte weit in den Himmel hinauf. Es war eine Brücke zwischen den Welten, zwischen dem Hier und da, oben und unten. Sie konnte die Hieroglyphen, die auf der Stele abgebildet waren, nicht entziffern, aber sie erkannte die Eule und das Auge — was wollte man mehr wissen?
    Vielleicht bedeuteten die restlichen Zeichen auch gar nichts, waren bloß Kauderwelsch, um die Menschen zu täuschen. Die ganze Anlage sah ja mehr nach Vergnügungspark als nach heiligem Boden aus.
    Sie gingen weiter in Richtung ihres Hotels, umgeben von einem Schwarm ahnungsloser Touristen. Sieben Widdersphingen zur Linken, sieben zur Rechten, so hieß sie der Gott Chnum willkommen. Chnum, Herr über Zeugung und Geburt, der auf seiner Töpferscheibe Menschen als auch Götter erschaffen hatte. Las Vegas, fruchtbares Land, machte seinem Namen alle Ehre. Am Ende jeder Reihe von Sphingen, thronte ein übergroßer Herrscher: zwei identische Götter, es mussten Zwillinge sein.
    Ihr Weg führte sie nun zur großen Sphinx, der kleinen Schwester von der aus Gizeh. Marie ärgerte sich über ihre lauten, gut gelaunten, dummen Begleiter. Im Angesicht göttlicher Macht galt es, den Kopf zu beugen und Respekt zu zollen. Zwischen den Tatzen der Löwin machte sie schließlich halt. Sie legte ihre Hand auf ihres Bruders Schulter und er stoppte. Sein Blick durchbrach den Bann, den die wabernde Masse des fleischigen Hinterns der Touristin vor ihnen auf ihn ausgeübt hatte. Er sah Marie fragend an.
    „Pssscht“, machte sie, bevor er sich beschweren konnte.
    „Häh?“
    „Bitte sei ruhig.“
    Caspar folgte ihrer Bitte.
    „OK, das war's“, sagte sie kurze Zeit später.
    „Wieso pscht?“
    „Ich hatte es jemanden versprochen.“
    „Wem?“
    „Nicht wichtig. Was ist das?“, fragte sie auf die göttliche Kreatur zeigend.
    „Die Sphinx.“
    „Genau. Kennst du ihre Geschichte?“
    „Nein, nicht wirklich. Ich war nie gut in Geschichte. Scheiß Schule.“
    „Schule? Scheiß drauf. Solche Sachen lernt man aus dem Fernsehen. Die Sphinx lauerte auf Reisende und stellte ihnen dann ein Rätsel. Kannten sie die Antwort nicht, erwürgte und verschlang das Monster sie. Das Rätsel lautete: Was geht morgens auf vier, mittags auf zwei und abends auf drei Beinen?“
    „Na?“, fragte der wenig beeindruckte Caspar.
    „Der Mensch. Als Baby krabbelt er auf allen Vieren, dann geht er aufrecht und schließlich, am Ende seines Lebens, geht er am Stock, das heißt auf drei Beinen. Du solltest wirklich mehr fernsehen, Caspar.“
    „Auf drei Beinen? Ich geh auch auf drei Beinen, obwohl ich jung bin. Im Ernst, meine Eier platzen gleich und du erzählst mir was über alte Götter. Marie, du solltest wirklich mehr Pornos gucken.“
    Die Sphinx hatte sich dem Mythos zufolge in den Tod gestürzt, nachdem Ödipus die Frage beantwortet hatte. Doch Tote kamen wieder, wie sie am eigenen Leib gespürt hatte. Außerdem

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