Totgeburt
hatte das Schicksal des griechischen Helden von einer anderen Frage abgehangen und das entscheidende Rätsel hatte er nicht lösen können.
Caspar ging weiter, er hatte den fetten Hintern der Frau nicht vergessen und nahm die Fährte wieder auf. Sie folgte ihrem Bruder hinab in den Tunnel, der unter dem Fabelwesen hindurchführte. Auf der anderen Seite angekommen, die Wächterin im Rücken, die Frage im Kopf, betrachtete Marie den Tempel.
Pyramiden waren Stein gewordene Lichtstrahlen, Treppen zu den Höhen, Treppen zu den ewigen Sternen. Sie staunte über die Pyramide aus Glas, die schwarz wie die Nacht war, welche nun herrschte, und aus deren Spitze sich ein grell leuchtender Strahl in den Himmel bohrte. Sie war am 13.10.1993 eröffnet worden und nicht am fünfzehnten, wie man gerne las. Die zwei Tage machten den Unterschied: siebenundzwanzig; drei mal neun, neun das Ende, göttlicher Richtspruch; neun, neun, neun, stand die Sechshundertsechsundsechzig auf dem Kopf; drei, die Trinität: Nimrod, Semiramis, Tammuz; Osiris, Isis, Horus beziehungsweise die Schlange, Eva und Kain.
Sie kamen zum Eingang, wo Marie einem letzten Gott die Ehre erweisen musste. Es war Anubis, der alte Schakal, Gott der Toten, der die Herzen der Menschen abwog, bevor Ammit, das Krokodil, sie verschlingen durfte.
Sie wickelten den Check-In ab und begaben sich sofort auf ihr Zimmer, um das Gepäck loszuwerden. Sie nahmen den Inclinator, so nannte man die Fahrstühle hier, weil sie nicht geradlinig aufwärts fuhren, sondern die neununddreißig Grad Steigung der Außenwände mitmachten. Oben angekommen sahen sie am Geländer stehend ins Atrium hinab. Der Innenbereich des Hotels war gigantisch und beherbergte mehrere Gebäude, darunter die Nachbaut einer Maya Pyramide. Südamerikanisch? Im Grunde genommen glatter Stilbruch. In der Mitte des Platzes stand ein Obelisk wie draußen, nur kleiner. Dessen Spitze war auf die Mitte der Pyramiden-Decke ausgerichtet. In der Spitze des Baus trafen sich die vier gigantischen Wände des Tempels. Sie bildeten ein Tatzenkreuz, zumindest von unten aufwärts blickend gesehen. Dazu kamen die Stützpfeiler, die sich ebenfalls im Zentrum trafen und damit zwei weitere Kreuze bildeten. Zusammengenommen formten sie das achtspeichige Sonnenrad. Horus war an einem Kreuz gestorben. Das Kreuzsymbol war natürlich keine christliche Erfindung, man konnte es bis zum Gott Tammuz zurückverfolgen. Man nannte das Kreuz des Tammuz auch das Tau-Kreuz, das heute aussah wie ein T. Doch hatte es einmal ausgesehen wie dieses X hier, das an der Decke des Hotels hing. Seine Jünger hatten es sich auf die Stirn gemalt und das würden sie wieder tun. Das Symbol versprach Vollendung.
„Was starrst du an die Decke?“, unterbrach Caspar sie.
„Das Kreuz“, antwortete sie.
„Welches Kreuz?“
„Du erkennst es nicht? Nicht schlimm. Wir bringen die Sachen aufs Zimmer und gehen dann shoppen.“
„Was ist mit meinem Weib?“
„Oh Mann!“
Als sie die Tür zur Suite öffnete, schob er sich an ihr vorbei, inspizierte jedes der Zimmer, kam zurückgeschossen und meinte, dass er so nicht arbeiten könne. Er verlangte nach mehr Platz für sich und seine zukünftigen Gäste. Nach kurzem hin und her, wählte Marie schließlich die Nummer des Doktors, drückte ihm das Telefon in die Hand und forderte ihn dazu auf, sich selbst um die Angelegenheit zu kümmern.
Unbefangen wie ein Kind schilderte er dem Alten sein Problem. Sie schmunzelte, während er das tat, erwartete sie ja wenig Entgegenkommen. Leider musste sie allzu bald realisieren, dass sie keinen Grund zur Schadenfreude hatte, da die Anfrage ihres Bruders von Erfolg gekrönt war. Er verabschiedete sich beim „Doc“ und erklärte ihr voller Freude, dass er eine Tower-Suite zugeteilt bekommen werde.
***
Zu Maries Belustigung überforderte die Situation ihn zusehends. Für Caspar kam es einem Spießrutenlauf gleich. Scharen mexikanischer Einwanderer, die das Glück suchten, aber das Elend fanden, säumten den Boulevard und brachten ihre Ware an den Mann. Junge, dicke und alte Männer, sogar die ein oder andere Frau, streckten lächelnd oder nicht ihre Hände aus, um ihrem vorbeieilenden Bruder die Visitenkarten der Frauen, allesamt Escort Mädchen, zu übergeben. Die Arbeitsuniformen der Kuppler bestanden, von wenigen Ausnahmen abgesehen, aus Hoodies über die sie einfarbige T-Shirts gezogen hatten. Meistens waren die Shirts gelb, blau, rot oder grün und mit dem immer selben
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