Totgeglaubt
weil er sie nicht angerufen hatte, vermutete sie, dass er zu demselben Schluss gekommen war. Aber das hieß noch lange nicht, dass sie wieder für ihren Vater arbeiten würde. Sie hatte bereits zu viele Grenzen überschritten. Sie konnte in den Ermittlungen, zu denen die Bürgermeisterin die Polizei drängte, nicht mehr unparteiisch sein. “Das kann ich nicht, Dad. Ich würde dir nur Probleme machen”, sagte sie. “Es ist wirklich am besten, wenn ich aussteige.”
Er zog seine buschigen Augenbrauen hoch. “Aber es geht hier um deinen Job! Was wird mit Whitney? Wie willst du etwas zu essen auf den Tisch bringen?”
“Das kriege ich schon hin.”
“Sie ist meine Enkeltochter.”
“Ihr wird es an nichts fehlen.”
Sie standen sich gegenüber und starrten sich an. Allie war so auf ihren Vater fixiert, dass sie erst gar nicht bemerkte, dass Jed Fowler drüben auf der anderen Straßenseite seinen Kopf aus dem Fenster gesteckt hatte. Ob er sie wirklich beobachtete oder in eine andere Richtung blickte, konnte sie nicht sagen, dafür waren die Straßenlaternen zu weit entfernt.
“Ich muss unbedingt schlafen”, sagte sie. Sie hatte nur noch einen Wunsch: die Tür zu schließen und beide Männer auszusperren.
“Das ist also dein letztes Wort? Du kommst nicht zurück?”, fragte ihr Vater.
“Nein, ich komme nicht zurück.”
Er straffte die Schultern. “Wie du willst”, sagte er und stapfte zu seinem Streifenwagen zurück.
Reverend Portenski versuchte, sich seine Sorge und Betroffenheit nicht anmerken zu lassen, während er Evelyn McCormick zuhörte. Normalerweise freute er sich über ihre Besuche. Sie tauschten Lektüre aus, diskutierten über Gott und organisierten die Gemeindearbeit.
Aber heute war sie zum ersten Mal mit Tränen in den Augen zu ihm gekommen.
“Ich weiß nicht, was ich tun soll, Reverend”, sagte sie. “Dale ist streng, und er kann barsch sein, aber er war immer ein guter Vater.”
“Daran zweifle ich keine Sekunde”, pflichtete er bei.
“Ich will mich deshalb auch nicht beschweren.”
“Natürlich nicht.” Portenski traute es Evelyn schlichtweg nicht zu, schlecht über ihren Mann zu reden. Aber immerhin hatte sie sich über ihn geärgert.
“Es ist nur so, dass ich mir Sorgen mache, dass sein Verhalten Allie nur noch schneller in Clays Arme treibt. Ich meine, jetzt, wo wir keinen Einfluss mehr auf sie haben, wer wird sie da noch aufhalten?”
Portenski nickte mit verständnisvoller und mitfühlender Miene, doch in Gedanken war er bei den Polaroidfotos, die er in den Hohlraum unter den Dielenbrettern zurückgelegt hatte. Diese Fotos deuteten auf ein ziemlich starkes Mordmotiv hin. Als Polizistin würde Allie das sofort erkennen. Wenn sie sie je zu sehen bekäme …
Ahnte sie überhaupt, mit wem sie da flirtete? Dass sie die Beziehung zu ihren Eltern für einen Mann aufs Spiel setzte, der schon bald im Gefängnis sitzen könnte? Die Vincellis taten schließlich einiges, damit er hinter Gitter kam …
“Sie war immer ein gutes Mädchen”, fuhr Evelyn fort. “Diesmal hat es Dale einfach zu weit getrieben, das ist alles.”
“Wie geht es Ihrem Mann jetzt?”
“Er gibt zu, ein paar Dinge gesagt zu haben, auf die er nicht mehr gerade stolz ist.”
“Ich verstehe.”
“Wenn er nur gewartet hätte, bis wir ruhig mit ihr hätten sprechen können, dann wäre es vielleicht ganz anders ausgegangen. Ich meine, sie wäre schon zur Vernunft gekommen. Wir alle wissen, was Clay getan hat.”
Portenski antwortete nicht auf diese Bemerkung. “Frauen scheinen Clay zu mögen.”
“Na ja, er ist ein attraktiver Mann, aber wenn man an seine Vergangenheit denkt …”
“Hat er seine Beziehung zu Beth Ann beendet?”, wollte Portenski wissen.
“Ja, das habe ich zumindest gehört.”
“Und jetzt hat er ein Auge auf Allie geworfen.”
“Offensichtlich.”
“Mit ein bisschen Glück ist es nur ein Strohfeuer”, sagte Portenski und hoffte, nicht zuletzt auch sich selbst davon zu überzeugen. Es behagte ihm gar nicht, das fehlende Puzzleteil in Händen zu halten und die damit einhergehende Verantwortung zu tragen. Die Vorstellung, die Bilder öffentlich zu machen, war ein ebensolcher Albtraum für ihn wie die Vorstellung, sie weiter unter Verschluss zu halten.
“Aber selbst in einer kurzen Beziehung kann eine Menge passieren”, wandte Evelyn ein. “Zumindest würde das, was von ihrem guten Ruf noch übrig ist, endgültig zerstört. Und sie würde sich die meisten unserer
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