Totgelebt (German Edition)
noch stärker anbieten müssen. Aber ich habe wirklich alles versucht.“ Sie schwieg kurz, kämpfte mit ihren Schuldgefühlen. „Aber wissen Sie, er hat mich gar nicht an sich rangelassen. Alles an ihm signalisierte mir Abwehr, ja, fast schon Abneigung. Er wollte gar keinen näheren Kontakt, nicht zu mir auch nicht zu den anderen Jungs im Haus. Ich bin dann zumindest noch einmal zu ihm gegangen, so gegen acht war das, kurz bevor ich nach Hause gefahren bin. Habe ihn gefragt, wie es ihm geht, ob er noch was brauche. Aber er zeigte mir ganz deutlich, dass er alleine sein wollte. Also wünschte ich ihm eine gute Nacht und gute Besserung und bin wieder gegangen. Da habe ich ihn auch das letzte Mal gesehen. Hätte ich auch nur im Entferntesten geahnt, dass er vorhatte, sich das Leben zu nehmen, mein Gott, ich wäre doch bei ihm geblieben, hätte mich über seine Abwehr hinweggesetzt und hätte mit ihm geredet. Ich hätte alles getan, um das zu verhindern. Das können Sie mir glauben. Eines meiner Kinder hat sich selbst umgebracht und ich habe das nicht vorhergesehen. Das wird mir für den Rest meines Lebens anhaften“, sie begann zu weinen. Jedoch nicht aus Trauer um Leon, dachte Paula, sondern aus Angst um ihren Ruf. Susann Eckberg strahlte eine merkwürdige Unruhe aus.
„Nun gut“, ergriff Max das Wort, „sagen Sie uns doch einmal, ob Leon schon öfters abends das Haus durch das Fenster verlassen hat. Wissen Sie etwas darüber?“
Sie schüttelte den Kopf und sagte sehr leise „Nein, ich bin ja nachts auch nicht da. Deshalb nehmen wir auch nur Jungen ab 14 Jahren hier auf und es müssen immer ältere Jungen da sein, die ein bisschen mit die Verantwortung tragen. Aber ich habe den Jungs auch vertraut, sie bekommen ja sehr viel Verantwortung und Vertrauen geschenkt, dass soll sie stärken und deshalb habe ich auch nicht angenommen, dass sie das Haus nachts heimlich verlassen. In der Woche ist ab elf Uhr Ausgehverbot. Am Wochenende ist es altersmäßig gestaffelt.“
„Sie sprachen gerade über den Gemütszustand des Jungen. Wie war denn seine Verfassung, war er sehr labil?“, richtete Paula die nächste Frage an die Betreuerin.
„Er war der klassische Einzelgänger. Ich habe ja schon gesagt, dass er sich immer zurückzog, sich nicht mit den anderen Jungen anfreunden konnte. Er hatte auch in der Schule keine Freunde, er war immer allein. Aber so war er schon von Beginn an. Ich kenne ihn nun seit einem Jahr und seitdem war er so. Das kann Ihnen auch der Betreuer bestätigen, der vorher hier die WG betreut hat. Wir haben Akten über alle Jungen, die wir betreuen. Da wird er ebenso charakterisiert. Leon war einfach nicht fähig, Bindungen aufzubauen. Ihm fehlte das Soziale, er integrierte sich nicht. Er war nicht bösartig, ganz und gar nicht, er war ein lieber Kerl. Ganz ruhig, sehr weich, aber er lehnte jeden näheren Kontakt ab. Nur zu seinem Hund nicht. Er hat seine Eltern praktisch nie kennen gelernt. Sie starben als er zwei Jahre alt war. Verkehrsunfall. Vermutlich hat er nie gelernt, was es heißt, Bindungen und Vertrauen aufzubauen. Im Heim scheint er sich auch nicht heimisch gefühlt zu haben. Aber er war unverändert in den letzten Tagen, so wie immer. Nicht labiler als zuvor. Wirklich, sonst hätte ich doch gehandelt. Ich hätte etwas getan, diesen Wahnsinn verhindert.“
Paula räusperte sich und nickte noch einmal „Gut. Das wäre es dann erst einmal. Wissen Sie vielleicht, ob Leon eine junge Frau, eine Studentin, namens Lotte Jansen kannte?“
Susann Eckberg verneinte die Frage.
„Und haben Sie einen PC und einen Drucker hier im Haus?“, fuhr Paula fort.
Dieses Mal nickte die Betreuerin.
„Ich schicke heute Nachmittag die Spurensicherung vorbei, Leons Zimmer müssen wir gründlich untersuchen lassen. Jede Spur ist jetzt wichtig. Den PC und den Drucker des Hauses müssen wir für kurze Zeit mitnehmen. Ich hoffe, Sie und die Jungen verstehen das. Ansonsten ist es ganz wichtig, dass Sie sich bei uns melden, wenn Ihnen noch irgendetwas einfällt. Ich gebe Ihnen meine Karte. Abschließend würde ich gerne noch einmal mit allen Jungen gemeinsam sprechen. Wenn Sie so nett wären und die Vier hier in das Zimmer holen würden?“ Paula erhob sich. Nach rund fünf Minuten fanden sich die Jungen im Raum ein. Paula und Max blieben stehen, die Jungen nahmen Platz.
„Nur ganz kurz“, begann Paula, „ihr wisst ja über den Tod von Leon schon Bescheid. Wir müssen mehr über die näheren Umstände
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