Totgelebt (German Edition)
würde, das würde ihr doch auch gefallen, hatte er gesagt. Aber nach den ersten M alen reichte ihm das nicht mehr aus. Kurz nach ihrem dreizehnten Geburtstag kam er abends in ihr Zimmer und sagte, sie sei nun ein großes Mädchen, und deshalb habe er ein ganz besonderes Geschenk für sie. Da war sie noch unsicher gewesen, was sie erwarten würde, vielleicht sogar neugierig, vielleicht hatte sie sich sogar ein bisschen gefreut auf ein Geschenk, über das sie sich eventuell freuen würde. Doch dann hatte er ihr die Kleider ausgezogen, sie ganz seltsam angeschaut. Seine Augen hatten einen merkwürdigen Ausdruck, als ob er brennen würde. Er wurde sehr nervös, dann wurde er hektisch und zog sich selbst ganz schnell nackt aus. Er hatte sie gedrängt, sich aufs Bett zu legen. Und dann legte er sich auf sie drauf. Es tat so weh, sie hätte schreien können, aber sie konnte kaum atmen, er war so schwer, sie bekam kaum Luft und er schwitz t e so stark auf ihr, und sie konnte nichts sehen, weil er so groß war und auf ihr lag. Also schloss sie die Augen und versuchte an etwas Schönes zu denken. An Ausflüge in den Zoo, d ie sie früher mit Mama und Papa gemacht hatte, vor langer, langer Zeit. Als alles vorbei war hat er sich von ihr runter gerollt, hat sich angezogen und war ohne ein weiteres Wort aus ihrem Kinderzimmer gegangen. Seit diesem Abend hatte sich das Ritual unzählige Male wiederholt. Sie konnte sich nicht daran gewöhnen, es war immer noch genauso schlimm wie beim ersten Mal, nur dass sie nun wusste, was kommen würde, wenn er wieder in ihrem Zimmer stand. Plötzlich musste sie doch weinen, auch wenn sie wegen ihm nicht mehr weinen wollte, sie konnte nicht anders. Dann drehte sie den Kopf schnell zum Bildschirm, ein neuer Besucher im Forum. Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht. „Danke dir, danke dass du gekommen bist und dein Versprechen gehalten hast.“ Sie hatte eine Persönliche Nachricht erhalten. Sie war erleichtert. Sie begann zu lesen. Las sich die Nachricht ein zweites Mal durch und begann ihre Antwort am PC einzutippen.
33. Kapitel
Sie lag reglos im Bett, starrte auf den Wecker ohne ihn wahrzunehmen. Sie konnte nicht sagen, wie lange sie hier schon so lag. Draußen war es hell, also musste es zumindest schon Morgen sein. Anne lag nicht neben ihr. Das wusste sie, Anne hatte sie lange im Arm gehalten, ohne ein einziges Wort zu sagen. Das war auch nicht nötig. Sie konnte nicht sprechen, kein Wort hatte sie bisher sagen können. Sie konnte einfach nicht sprechen, s ie wusste auch gar nicht, was sie hätte sagen sollen. „Warum“ war das E inzige, was sie die ganze Zeit dachte, sich selber fragte. Warum, warum, warum, das Wort geisterte permanent durch ihren Kopf. Dann kamen ihr Bilder in den Sinn, die sie lieber nicht sehen wollte, sie malte sich aus, wie alles abgelaufen war, wie das Unfassbare passieren konnte. Sie schloss die Augen. Sie konnte nicht weinen, Anne hatte zu ihr gesagt, lass es raus, du darfst ruhig weinen, es ist okay. Doch sie konnte einfach nicht. Ihre Augen brannten trotzdem und ihr Kopf hämmerte ein bisschen, ihre Schläfen pochten, doch das nahm sie alles nicht richtig wahr.
Als sie die Stimme ihrer Mutter am Telefon hörte, dachte sie, das kann nicht wahr sein, es kann und darf einfach nicht wahr sein. So etwas passiert nicht im realen Leben. Bitte nicht. Anne hatte sie direkt zu ihrer Schwester gefahren, hatte sie auf den Beifahrersitz platziert, sie angeschnallt, wie ein willenloses Kind. Paula ließ alles mit sich machen, konnte gar nicht mehr reagieren, sie saß einfach da und starrte vor sich hin. Sie konnte es nicht glauben, es war unfassbar, unverständlich, nicht greifbar, irreal. Ihre Mutter öffnete ihnen mit rotgeränderten Augen die Türe, sofort schossen ihr neue Tränen in die Augen. Sie nahm Paula kurz in den Arm, doch Paula blieb steif, sie konnte in diesen Minuten keine Nähe ertragen. Ihre Schwester war nicht ansprechbar, Fynns Vater, Carlos, saß mit ihr am Küchentisch. Ihre Mutter weinte, konnte gar nicht mehr aufhören, Fynns Vater sagte gar nichts, er wirkte traurig, aber auch aggressiv. Als er Paula und Anne kommen sah, stand er wortlos auf und verließ den Raum. Ihre Schwester blieb ebenso stumm wie Paula, sagte kein Wort, in ihren Augen lag En t setzen, Ungläubigkeit, sie hatte die Wahrheit noch nicht angenommen. Sie saß am Tisch, ihre Hände, die sie unablässig knetete, ineinander verschränkt. Ihre Mutter legte ihr ab und zu eine
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