Totgelebt (German Edition)
Hand auf den Arm und redete dabei die ganze Zeit. Ihre Schwester hob nicht einmal den Kopf, als Anne und Paula in die Küche traten, sie nahm die beiden gar nicht wahr. Einige Minuten standen Paula und Anne wortlos in der Küche herum. Anne fragte, ob sie etwas tun konnte, helfen, vielleicht einen Tee aufsetzen. Ihre Mutter nickt und sagte, das sei eine gute Idee. Paula schaute sich um, nahm die Küche schemenhaft war und verließ den Raum. Langsam ging sie den Flur entlang. Sie erinnerte sich an das letzte Mal, als sie hier gewesen war, genauso wie heute. Da hatte sie sich so wohl gefühlt, sie hatte Fynns eigenen Geruch in der Nase, ein weicher, warmer Kinderduft, es roch nach Glück, nach Kinderlachen und nach Unbeschwertheit. Immer noch konnte sie nicht weinen. Langsam öffnete sie die Türe zu Fynns Zimmer, nur einen kleinen S palt, ganz langsam, sie zögerte. Fynns Geruch strömte ihr entgegen, sie hatte das Gefühl, der ganze Raum war erfüllt von Fynns Körperduft, sie roch intensiv ihren Neffen, benommen wich sie zurück, als ob sie Fynn in seinem Zimmer vermutete. Dann öffnete sie die Türe ganz. Fynns Vater saß auf einem Stuhl im Zimmer und starrte aus dem Fenster. Er schaute Pa u la nur kurz an, nickte und drehte sich wieder um. Paula nahm das als Einverständnis, dass sie den Raum betreten durfte. Sie wäre lieber alleine gewesen, dennoch trat sie ein und schloss hinter sich die Türe. Sie ging zu Fynns Kinderbett und nahm sein Lieblingsstofftier in die Hand. So weich, dachte sie. Sie hielt sich das Stofftier an die Nase und atmete tief ein. Sie konnte immer noch nicht weinen. Sie verharrte, sah dabei das selbstgemalte Bild von Fynn an, das über seine m Bett hing. Ein Flugzeug. Fynn liebte Flugzeuge, sein größter Wunsch war es, später Pilot zu werden. Paula hatte ihm fest versprochen, dass er mit ihr und Anne bald in den Urlaub fliegen durfte. Paula würde dann dafür sorgen, dass er während des Fluges kurz zu dem Piloten ins Cockpit durfte. Im letzten Sommer war sie mit ihm zum Flughafen gefahren, von der Aussichtsplattform hatten sie Stunde um Stunde die Starts und Landungen der Flugzeuge verfolgt. Immer wenn Paula demonstrativ auf die Uhr geschaut hatte und sagte, „So, jetzt müssen wir aber mal.“, hatte Fynn sie mit einem Leuchten in den Augen angeschaut und gesagt, „Nur noch eins, bitte, bitte. Schau, da kommt schon eins.“, und hatte dabei in den Himmel gezeigt. So hatten sie geschlagene fünf Stunden am Flughafen verbracht und den Nachmittag mit einem Besuch bei McDonalds gekrönt. Sie war sich sicher, dass Fynn an diesem Tag wunschlos glücklich war und der Nachmittag zu den schönsten in Fynns Leben zählte. Ein Leben, das jetzt vorbei war. Nie wieder würde sie gemeinsam mit ihrem kleinen Neffen, der so gut roch, der so gutgläubig war, der so genügsam war, der glücklich und zufrieden war, wenn man ihm vorlas, einen Tag, eine Stunde oder auch nur eine Minute verbringen können. Nie wieder.
„Es war ein Unfall“, sagte Carlos ins Zimmer hinein. Eher an sich selbst gerichtet als an Paula. Er erwartete keine Antwort. „Ein Unfall.“, wiederholte er. Er schwieg. „Mein Sohn ist tot, mein einziger Sohn.“, er weinte. Er hielt sich die Hände vor die Augen, als ob er sich schämte vor Paula zu weinen. Er drehte sich wieder um. Er schluchzte lauter. Dann stand er auf und verließ das Zimmer.
Paula war nun alleine, allein mit Fynn in diesem Zimmer, in seinem Zimmer. Es waren erst wenige Tage vergangen, da hatte sie hier mit ihrem Neffen gesessen und ihm vorgelesen . Wie sich die Welt in wenigen T agen verändern konnte. Er war so glücklich und er hatte sie so glücklich gemacht. Keine andere Person schaffte es, ihre düsteren Gedanken innerhalb von Minuten zu vertreiben. Sein kleines, glucksendes Lachen, seine kleinen zarten Hände, die er vertrauensvoll in ihre legte, sich bei ihr absolut sicher fühlte, seine leuchtenden Augen. Nie wieder, sagte sie sich jetzt wieder, nie wieder.
Plötzlich bemerkte sie, wie jemand eine Hand auf ihre Schulter legte, sie drehte sich nicht um. Anne zog sie sanft herum, versuchte ihr in die Augen zu schauen, versuchte zu ihr durchzudringen, sie zu erreichen. „Kann ich irgendwas für dich tun, Süße?“, fragte sie an Paula gewandt. Paula reagierte nicht, sie konnte nicht. Sie hatte das Gefühl, dass jede Bewegung, jedes gesprochene Wort eine unendliche Anstrengung sei, sogar Weinen war zu anstrengend. Sie konnte einfach nicht. Anne zog sie
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