Totgelesen (German Edition)
Rades. Sie schrie, schlug um sich, versuchte den Angreifer abzuwehren. Doch der lenkte ihre beiden Räder direkt auf den Abgrund zu. Der braune Zaun war nur noch einen Meter entfernt. Sie versuchte ihr Möglichstes, hatte allerdings keine Chance ihrem Angreifer zu entkommen. Der Zaun kam auf sie zu, immer näher, immer schneller. In letzter Sekunde ließ er ihr Rad los. Sie fuhr an dem Zaun auf der rechten Seite vorbei. Er schaffte es, sein Rad nach links zu verreißen und an dem Zaun entlang zu schrammen. Man sah ihr an, dass sie erleichtert war von ihm losgekommen zu sein. Bis sie merkte, dass der schmale Streifen, der sie vom Abhang trennte, zu schmal war um zu bremsen. Trotzdem versuchte sie ihr Rad anzuhalten, sich vor dem Abhang zu retten. Für kurze Zeit sah es sogar so aus, als würde sie es schaffen. Panik ergriff ihn. Was würde er tun, wenn sie es fertig bringen sollte?
Aber sie hatte keine wirkliche Chance. Mit einem weiteren Schrei kippte sie nach rechts und stürzte den Hang hinunter.
Samstag, 6. März
»Lilli, mein Schätzchen, hast du das gehört? Da hat doch jemand geschrien.« Gertrude Teschl hob ihr Yorkshire-Terrier-Hündchen hoch und drückte es ganz fest an ihre Brust. Wobei nicht klar war, ob sie damit den Hund oder sich selbst beschützen wollte. »Da, schon wieder, da schreit wer.«
Der kleine Hund knurrte mit einer Inbrunst, als hätte er nicht drei, sondern dreißig Kilo. »Ruhe, Lilli, sonst höre ich nichts.«
Die Überlegung, ob die Anschaffung eines neuen Küchenblocks sinnvoll und vor allem leistbar war, hatte sie so beschäftigt, dass ihr gar nicht auffiel, wie tief sie bereits in den Wald eingedrungen war. Der schnelle Schritt, mit dem die rüstige Pensionistin ihren kleinen Hund durch die Gegend zerrte, hatte sie bis in die Nähe des Erdrutsches geführt. Dies war ihr allerdings erst richtig bewusst geworden, als sie den Schrei hörte. Sie blickte sich um. Der schmale Pfad, den Heidelbeerpflücker im letzten Sommer getreten hatten, endete hier genauso abrupt, wie die Schreie. Dahinter war nur Dickicht. Der Hang konnte nur noch wenige Meter entfernt sein. Dorthin verirrte sich selten jemand. Junge Fichten und dichtes Unterholz waren kein attraktiver Platz zum Schwammerlsuchen oder für ein Schäferstündchen. Ohne lange darüber nachzudenken, bahnte sie sich den Weg in die Richtung, aus der die Schreie gekommen waren.
Seit ihrer Pensionierung vor fünf Jahren war Lilli ihr Ein und Alles. Darum hatte sie jetzt auch keine Angst. Lilli würde sie beschützen. Aber was war, wenn jemand Lilli etwas antun wollte? Sie haderte, ob es nicht besser wäre umzukehren und nach Hause zu gehen, als sie leises Wimmern hörte. Daraufhin klemmte sie ihren Hund fester unter den Arm und bog mit der anderen Hand den Zweig einer Fichte zur Seite. Mit ihren hohen, grünen Gummistiefeln stapfte sie durch die gerade keimenden Brennnesseln und die Brombeerranken, die vom Vorjahr übrig geblieben waren. Immer darauf konzentriert, denjenigen zu finden, dessen Wimmern ihr den Weg wies. Doch das Jammern wurde leiser, obwohl sie doch näher kommen musste, auch Lilli winselte.
***
»Ja wie sehen Sie denn aus, Herr Strimitzer? Möchten Sie etwas trinken?«
Strimitzer lächelte. Das Einzige, das ihm an den Besuchen in Beiels Haus gefiel, war dessen Haushälterin Veronika. Sie schaffte es, diesem Haushalt ein Mindestmaß an Freundlichkeit zu geben.
»Ein großes Glas Wasser wäre nett von Ihnen. Ich habe das prächtige Wetter genutzt, um mit dem Fahrrad herzukommen, brauche das für meine Fitness. Blöderweise habe ich nichts zu trinken eingepackt. Die Strecke war doch weiter als gedacht, bin ganz schön ins Schwitzen gekommen.«
Veronika trat zur Seite und bat Strimitzer herein. Sie schloss hinter ihm die Eingangstür und lud Strimitzer ein, das Wasser bei ihr in der Küche zu trinken.
»Ganz ehrlich gesagt bin ich ja froh, dass Sie einverstanden waren, hier bei mir auf Herrn Beiel zu warten. Ich weiß nämlich nicht, wie er reagiert, wenn er Sie hier allein im Haus antrifft«, sagte die Haushälterin, während sie Wasser ins Glas laufen ließ.
Strimitzers Miene verfinsterte sich. Der Ton, den er anschlug, entbehrte jeglicher Freundlichkeit.
»Was soll das denn heißen? Ich bin sein Literaturagent! Er hat mit Sicherheit nichts dagegen, wenn ich mich frei in seinem Haus bewege. Es ist anmaßend von Ihnen, mich daran hindern zu wollen.«
Veronika wurde blass. »Natürlich, ja, wie dumm von mir. Bitte
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