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Totgesagt

Totgesagt

Titel: Totgesagt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T Weaver
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griff nach dem zweiten Nagel und näherte die Spitze meinem Mittelfinger. »Siebenundzwanzig Knochen, davon allein acht im Handgelenk. Muskeln, Sehnen, Bänder, Knorpel, Venen, Arterien, Nerven … Man muss schon achtgeben, dass man nichts Wichtiges trifft.«
    Ich versuchte, zu sprechen, mich zu wehren – nun aber richtete er den Nagel auf meinen Mittelfinger. Meine Hand begann zu zucken wie ein auf der Straße verendendes Tier. Er betrachtete sie einen Moment und neigte den Kopf zur
Seite. Schaute mich an, als befände ich mich hinter einer Glasscheibe im Zoo.
    Dann trieb er den zweiten Nagel durch meinen zweiten Finger.
    Ich schrie auf.
    »Wir werden dich töten, David«, sagte er.
    Wieder schrie ich, noch länger und lauter. Ich versuchte, einen Teil meines Schmerzes durch meine Kehle hinauszuschreien und seine Stimme zu übertönen. Doch er wartete einfach, bis ich wieder still war. Als es so weit war, griff er in die Tasche seiner schwarzen Jacke und holte eine Spritze heraus.
    »Aber erst wirst du spüren …«
    Er richtete die Nadel nach oben.
    »… wie es sich anfühlt, auferweckt zu werden.«
     
    Ich starb schnell.
    Sämtliche Geräusche wurden verschluckt. Licht verwandelte sich in Dunkelheit. Dann veränderte sich die Dunkelheit, und plötzlich blickte ich von oben auf mich selbst herab. Auf meinen fast nackten, starren Körper an dem Kreuz. Auf die Handschellen an meinen Gelenken. Auf Legion, der mich von unten beobachtete. Ich sah alles: meinen Kopf, die Nägel, die Peitschennarben auf meinem Rücken. Ich fühlte mich immer noch bei Bewusstsein. Ich spürte noch das Holz an den Rückseiten meiner Arme, und meine innere Stimme versicherte mir wieder und wieder, dass ich noch nicht tot war.
    Dann aber veränderte sich etwas.
    Ein Gefühl flutete über mich hinweg, als würde mir das bisschen Kontrolle, über das ich noch verfügte, mit einem Mal entgleiten. Und während das passierte, liefen Szenen aus meinem Leben vor meinen Augen ab. Im Wald mit
meinem Vater. Wie ich neben seinem Bett saß, als er starb. Meine erste Begegnung mit Derryn. Der Tag, an dem ich sie fragte, ob sie mich heiraten wollte. Der Tag, an dem wir erfuhren, dass wir keine Kinder bekommen konnten. Der Tag, an dem sie mir gut zuredete, nach dem ersten verschwundenen Mädchen zu suchen.
    Es passt perfekt zu dir.
    Wieder ihre Stimme. Und auf ihre Stimme folgte eine andere Art von Dunkelheit: eine alles verschlingende, alles auslöschende Finsternis, bis nur noch Echos der Stimmen übrig blieben, die ich einmal geliebt hatte.
    Hinter diesen Stimmen schlugen Wellen aufeinander.
    Wie das Tosen des Meeres.

Familie
    In der Nähe von Bethany gruben sie in einer Vierergruppe die Blumenbeete um. Hinter ihnen standen ein Mann und eine Frau, die sie beobachteten. Inzwischen vergaß er so vieles – Daten, Gesichter, Gespräche, von denen er sich geschworen hatte, sie stets im Kopf zu behalten. An die Namen der beiden allerdings erinnerte er sich. Der Mann war Stephen, der erste Mensch, dem er nach seiner Ankunft auf der Farm begegnet war. Und die Frau hieß Maggie. Was sie betraf, erinnerte er sich sonst an kaum etwas. Er war sich nicht sicher, ob er jemals mit ihr gesprochen hatte. Doch ihr Gesicht kannte er. In der Dunkelheit im hintersten Winkel seines Gedächtnisses, wo er all das in Sicherheit brachte, was er sich von ihnen auf keinen Fall nehmen lassen wollte, bewahrte er ein deutliches Bild von ihr auf: Wie sie sich über ihn beugte, seinen Mund gewaltsam öffnete und ihm die Zähne zog.
    Es war Frühlingsanfang. Die Erde war feucht. Er lud eine Ladung Erde auf seine Schaufel und warf sie neben sich. Ein Stück weiter sah er Rose, das Mädchen, das genau wie er bestraft worden war, indem man sie in den Raum mit den Ringen gebracht hatte. Er hatte sie ganz gut kennengelernt. Drei Tage hatten sie gemeinsam in diesem Raum verbracht, ehe Rose geholt worden war. Sie hatte ein bisschen mit ihm gesprochen, ihm ein paar Dinge erzählt – zumindest das, woran sie sich noch erinnern konnte. Dann war sie zum
nächsten Teil des Programms gebracht worden. Inzwischen sah sie besser aus – weniger grau, mehr Farbe -, schien sich aber kaum noch an ihn zu erinnern. Manchmal ging er an ihr vorbei und sah, wie ihre großen, hellen Augen ihm folgten, als ob sie sich angestrengt zu erinnern versuchte, wo sie ihm schon begegnet war oder worüber sie gesprochen hatten. Meistens allerdings blickte sie einfach durch ihn hindurch, als wäre er ein Geist, der

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