Totgesagt
Ihr Vater, der hätte sich nie und nimmer an einem Kind vergangen. Hätte etwas mit ihm nicht gestimmt, wäre ihr das bestimmt nicht verborgen geblieben. Die Dinge in der kleinen Tasche konnten nichts anderes sein als weitere Ablenkungen, als Teil des ganzen Vertuschungsmanövers.
Damit man ihn von der Straße aus nicht sah, stellte sie den ausgeliehenen Pick-up hinter dem Haus ab und stieg aus. Was sie hier eigentlich suchte, wusste sie selbst nicht zu sagen. Vermutlich forschte sie immer noch nach ihrem Vater. Dies war ihr Elternhaus, in dem sie die ersten achtzehn Lebensjahre verbracht hatte. Hier hatte sie ihn zuletzt gesehen. Und hier befand er sich nach ihrem Gefühl nach wie vor. Weil er in Wirklichkeit nie fort gewesen war.
Was mochte damals – in jener Nacht, als sie auf der Pyjamaparty bei Hanna Smith gewesen war – hier vorgefallen sein? Was hatte sich vorher hinter der idyllischen Fassade jener heißen Sommertage abgespielt? Wie hatte es bloß zu einem Mord kommen können?
Oder war der Mord an Barker von Anfang an geplant gewesen?
Madeline hatte nicht die geringste Ahnung. Damals war sie so ausgehungert gewesen nach Zuwendung, dass sie sich ohne langes Zögern in die Arme der Montgomerys stürzte. Verborgene Abgründe oder üble Machenschaften hätte sie nie und nimmer vermutet. Sie hatte Clay angehimmelt, sich mit Grace wunderbar verstanden, bei der Erziehung von Molly tatkräftig mitgeholfen und für die schöne Irene regelrecht geschwärmt, weil sie so unendlich viel fröhlicher auftrat als früher ihre leibliche Mutter. Und alles mit einem Gefühl der Dankbarkeit für die Zuneigung, die sie ansonsten nie erfahren hätte.
Der Kies knirschte unter ihren Sohlen, als sie hinüberging zur Scheune. Das breite Rolltor war wie üblich verriegelt. Clay überließ eben nichts dem Zufall …
Bei dem Gedanken verzog sie verbittert das Gesicht. Dann stand sie vor dem Fenster und starrte durch die Scheibe in das ausgeräumte Arbeitszimmer ihres Vaters – auf nackte Wände, auf bloßen Estrich.
Nackt wie ihre Seele …
“Wie hat sie’s getan?”, murmelte sie, als führe sie ein Zwiegespräch mit Clay. “Und wo, Bruderherz, hast du die Leiche verscharrt?”
Bei der Gelegenheit fiel ihr ein, wie Grace vor anderthalb Jahren einmal mit einem Spaten hier angerückt war. Mit dem Werkzeug ertappt, hatte sie ausgesagt, sie habe mit eigenen Augen sehen wollen, ob an den Anschuldigungen gegen ihren Bruder etwas dran war. Dabei wusste sie es genau! Wie schon von Joe angedeutet, war das mit Sicherheit nur ein Versuch gewesen, die sterblichen Überreste an einen anderen Ort zu bringen. Klar, so musste es gewesen sein! Joe hatte auch bei allen anderen Dingen richtiggelegen.
Die Sache war nur: Die Spurensicherung hatte daraufhin den ganzen Garten umgegraben und nichts gefunden.
“Was habt ihr mit ihm gemacht?”, flüsterte sie. Ihr Vater musste hier irgendwo begraben liegen. Es konnte nicht anders sein. Nur wo? Draußen am Bach? Unter den Zypressen? In der Scheune?
Sie wandte sich um und spähte hinüber zum Farmhaus. Oder lag er etwa im Keller? Sie griff sich einen Spaten aus dem Schuppen hinter dem Hühnerstall und steuerte auf die Hintertür zu. Die Klinke probierte sie erst gar nicht; Clay sicherte alles doppelt und dreifach, traute niemandem über den Weg. Jetzt kannte sie auch den wahren Grund.
Mit dem Spatenstiel zertrümmerte sie eine Fensterscheibe und beseitigte vorsichtig die Scherben. “Ich finde ihn!”, beteuerte sie. Gerade wollte sie sich durch die Öffnung zwängen, da hörte sie hinter sich auf der Veranda das Knarren von Schritten.
War Clay schon zu Hause? Sie wirbelte herum, bereit, ihren Bruder zur Rede zu stellen. Statt auf Clay traf sie indes auf das stählerne Blatt des Spatens, mit dem sie kurz zuvor noch die Scheibe eingeschlagen hatte. Das Letzte, was sie vor dem Zusammensacken noch wahrnahm, war das Klingeln in ihrem linken Ohr. Und das hämische Grinsen auf dem Gesicht von Ray Harper.
Mit einer aus Bubbas Schuppen geholten Brechstange hebelte Hunter die Tür zu Harpers mobilen Heim auf. Es war helllichter Tag; drüben kam wieder die Nachbarin zum Vorschein, anscheinend verstört, weil er immer noch da war. Aber das scherte ihn nicht.
“Hey!”, rief sie zu ihm herüber, als die Tür nachgab. “Was fällt Ihnen denn ein? Das können Sie nicht machen!”
“Sehen Sie doch”, gab er zurück und warf das Stemmeisen beiseite.
Sie kam ihm hinterher, blieb aber an der Tür
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