Totgesagt
eingeflößt hatte, war ihr nämlich nach wie vor ganz schwindlig.
Sie musste es versuchen.
Vorsicht! Du hast nur eine Chance!
, mahnte sie sich und drehte den Knauf.
Jetzt!
Vorwärts hüpfend versuchte sie, die Tür im Fallen mit dem Handgelenk aufzustoßen. Als sie zu Boden ging, schrammte sie zwar mit dem Rücken über das metallene Bettgestell, war sich aber einigermaßen sicher, dass sie sich erfolgreich aus dem Bereich des Türblattes herausbewegt hatte. Jedenfalls krachte die Tür nicht gegen die Wand, sondern schwang langsam auf, wie das zunehmend höher klingende Knarren andeutete.
Ein jähes Quietschen ließ Madeline erschrocken zusammenzucken. Schlief Ray etwa auf der Couch? Dann musste er das Hopsen und Kratzen doch längst gehört haben! Nicht auszudenken, wenn der sie jetzt bei einem Fluchtversuch erwischte. Dann würde etwas Furchtbares passieren.
Im Haus blieb weiterhin alles dunkel und still.
Ray ist weg. Nichts passiert!
Nichts passiert? Das kam doch sehr drauf an, so wurde ihr bewusst, als sie durch den Durchgang nach links in den Gang robbte. Diese Fortbewegungsart war außerordentlich mühsam, doch sie durfte es nicht riskieren, im Dunkeln in der Hütte herumzuhüpfen. Sie musste vielmehr durchgehend klaren Kopf bewahren und sich geordnet vorwärtsbewegen. Überhastetes, panisches Agieren führte am Ende womöglich nur zu Verletzungen – oder gar Schlimmerem.
Der Weg zur Küche kam ihr meilenweit vor. In der Hoffnung, gleich in der Nähe auf Menschen zu treffen, am besten in einem benachbarten Blockhaus oder auf der Landstraße, spitzte sie angestrengt die Ohren. Doch außer dem Wind, der unter dem Dachüberstand hindurchfegte, war kein Laut zu hören.
Ein Stückchen noch! Ist nicht mehr weit! Prima machst du das! Du schaffst das!
Großer Gott! Nach Luft schnappend musste sie alle paar Sekunden eine Pause einlegen, um zu verschnaufen. Aber anders kam sie nicht voran. Aufgrund des Medikamentes hatte sie das Gefühl, als sei sie dreimal so schwer wie normal, und sie war dermaßen eingeschränkt, dass jede Bewegung die doppelte und dreifach Anstrengung kostete und ein hohes Maß an Konzentration erforderte.
Aus lauter Verzweiflung versagten ihr schon fast die Kräfte. Aber die Angst – die kalte, nackte Angst – und das Wissen, dass ihr Leben von den nächsten paar Minuten abhing, trieb sie weiter an.
So ist’s recht! Weiter so!
Die Küche war mit Linoleum ausgelegt. Madeline fiel der Unterschied zum Holzfußboden sofort auf, und beinahe wäre sie vor Erleichterung in Tränen ausgebrochen. Es dauerte eine halbe Ewigkeit, mit Tasten und Forschen die Schubladen auf Messer oder Scheren oder andere waffenähnliche Gegenstände zu untersuchen. Doch die Küche war nicht ausgestattet, es gab keinerlei Küchengeräte und kein Besteck. Vertane Zeit!
Hoffnungslos nach Luft ringend, sackte sie zu Boden. Heiße Tränen rollten ihr die Wangen herunter. Hätte sie sich doch bloß besser bewegen – einfach weglaufen – können!
Aber es ging nicht. Sie war vollkommen hilflos. Und dann hörte sie es: Das Brummen eines Automotors bewegte sich auf die Blockhütte zu.
Clays Handy dudelte gerade noch vor Erreichen der Reichweitengrenze. Viel länger konnte er kein Signal mehr empfangen, das war ihm klar. Es ging nun in die Berge und Täler der Great Smoky Mountains hinein.
“Habt ihr sie gefunden?”, fragte Allie, kaum dass er auf seine Taste drückte.
Er hatte versucht, sie anzurufen und ihr, als sie nicht antwortete, eine Nachricht auf die Mailbox gesprochen. Offenbar war sie von Grace bereits unterrichtet worden. “Noch nicht.”
“Was ist denn wohl los?”
“Wenn ich das wüsste!” Er neigte an sich nicht zum Aberglauben, aber jetzt seine Befürchtungen auch noch auszusprechen, das hätte seiner Meinung nach bedeutet, sie regelrecht herbeizureden. Sein Herz revoltierte geradezu angesichts der Bilder, mit denen seine Fantasie bombardiert wurde – Bilder wie die Fotos mit Katie und Rose Lee und Barker. Clay betrachtete Madeline ebenso als seine Schwester wie Grace oder Molly, und als er damals erfuhr, was Barker Grace angetan hatte, da hatte er sich geschworen, so etwas nie wieder zuzulassen. Er hatte sich vorgenommen, sie alle zu beschützen.
Und doch …
“Ach, ihr werdet schon rechtzeitig hinfinden”, versicherte Allie. Er ahnte allerdings, dass es wahrscheinlich nicht hinhauen würde. Noch nie war ihm eine Autofahrt so lang erschienen.
“Gibt’s inzwischen was Neues von
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