Totgesagt
Dunkelheit sah sie den vorderen Stoßfänger des Trucks schimmern, mehr aber auch nicht.
“Madeline!”, rief er erneut. “Du erfrierst da draußen! Das ist dir doch klar, oder? Sag mir, wo du steckst, und ich helfe dir zur Hütte zurück.”
Seine Stimme hallte vom Wald herüber – täuschend normal, genau so wie sie ihn zeitlebens kannte. Nur war er eben nicht der, für den sie ihn gehalten hatte. Sondern ein bösartiger Perverser – ein seelenloser, abgebrühter Verbrecher.
Jetzt nur zur Haustür hinaus und dann in ein sicheres Versteck, mahnte sie sich. Allerdings hatte sie nur eine leichte Jacke an; ob die ihr in einer kalten Nacht viel nützen würde, das stand in den Sternen. Und was hieß schon sicher? Anscheinend war Ray der einzige Mensch in diesen Bergen hier. Der brauchte nicht zu befürchten, dass ihn jemand hörte.
Wie dem auch sei: egal, wohin, bloß nicht in dieser Berghütte in der Falle sitzen! Als sie jedoch die Schwelle erreichte, bemerkte sie, wie sich der Mond ein wenig durch die Wolkendecke schob. Bleiches Licht filterte durch die hohen Kiefern und fiel auf etwas Schimmerndes. Schlagartig wurde ihr bang ums Herz: Schnee! Und Fußspuren, die in alle möglichen Richtungen führten. Falls sie sich durch die Schneedecke schleppen musste, würde sie binnen zehn Metern zum Eisklumpen gefrieren. Außerdem hatte Ray leichtes Spiel: Er brauchte ja nur ihrer Schleifspur zu folgen.
“Sag lieber, wo du steckst!” Sein Gebrüll hallte von den Baumstämmen wieder. “Andernfalls wird’s dir leidtun. Das verspreche ich dir!”
Unter Einsatz von Schulter und Hüfte schlängelte sie sich zu den Treppenstufen. Schulter, Hüfte, Schulter, Hüfte. Sicher, es grenzte an Wahnsinn, die kleine Lichtung überqueren zu wollen. An Selbstmord. Doch im Blockhaus konnte sie nicht bleiben. Dann lieber draußen erfrieren.
Da stieß sie auf Widerstand. Ein Holzstoß. Direkt daneben stand eine Axt.
“Maddy, nun sei doch nicht so stur!”, rief Ray. “Das bringt doch nichts. Wo willst du denn hin? Hier ist keine Menschenseele! Im Umkreis von vielen Meilen nicht! Und da draußen ist es unter null! Außerdem wird’s stürmisch!”
Der Wind wehte Schnee von den Ästen herunter, der Ray zweitweise in den Jackenkragen rieselte. Was ihn aber am meisten störte, war die Dunkelheit. Sehen konnte er nur das, was sich im schmalen Kegel seiner Taschenlampe befand. Das gab ihm das Gefühl, als weiche Madeline ihm andauernd aus. Eine Fußspur hatte er entdeckt, gleich neben dem offenen Fenster. Erst hatte er angenommen, es seien ihre Abdrücke, doch nach zehn Schritten hörten sie auf und führten wieder zurück zu dem allgemeinen Gewirr vor dem Blockhaus.
Vermutlich war sie losmarschiert, bemüht, einen möglichst großen Vorsprung herauszuholen. Aber welche Spur in dem Durcheinander war ihre? Und wie war sie überhaupt freigekommen? Er hatte sie doch ordentlich gefesselt und dabei richtig zugezogen!
Noch einmal würde er sie nicht unterschätzen, sondern sie gleich in Ketten legen, mit einem Kübel als Toilette. Dann konnte sie nicht mehr so schnell ausreißen. Das musste allerdings auf einen anderen Ort verschoben werden, denn sobald er sie fand, musste er los. Hier durften sie nicht bleiben. Hier schnüffelte womöglich dieser Shulman herum.
“Maddy?”, brüllte er nochmals.
Mit einem Male stutzte er, ziemlich sicher, dass er von der Vorderseite der Hütte einen dumpfen Schlag gehört hatte.
Der Wind hatte die Haustür zugeschlagen, und zwar mit einem solch heftigen Knall, dass Madeline vor Schreck fast einen lauten Schrei ausgestoßen hätte. Atemlos vor Angst und Anstrengung versuchte sie, sich die Handfesseln an der Axtschneide durchzusägen, ging dabei aber viel zu hektisch, zu panisch zu Werke. Ray hatte mit Brüllen aufgehört; die Stille zerrte viel mehr an ihren Nerven als das Gerufe, denn nun konnte sie ihn nicht mehr lokalisieren.
Am liebsten hätte sie sich versteckt, sich verkrochen, es einfach drauf ankommen lassen. Das allerdings war albern, das wusste sie. Er würde sie finden, und dann war Schluss. So schlapp, erschöpft und bang sie auch war – sie musste ihren Grips benutzen und die Nerven behalten. Sie musste an ihre Grenzen gehen.
Mach weiter!
Immer heftiger rieb sie die Stricke am Axtblatt, hin und her, hin und her, doch die Seile durchzuschneiden erwies sich nicht so einfach, wie sie ursprünglich gedacht hatte.
Die einzigen Faktoren, die sich zu ihrem Vorteil auswirkten, waren das
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