Totgesagt
eine Palme kletternden Affen. Vermutlich kannte auch Irene die Abbildung. Sie sperrte sich nur dagegen und tat lieber so, als wäre es Zufall oder eine Verwechslung. “Ich weiß es hundertprozentig!”, zischte Madeline.
Eigentlich wollte sie gar nicht so gereizt reagieren, konnte aber ihre Ungeduld nicht verbergen. Irene war nicht mehr die Jüngste, und ihre Fähigkeit, Stress auszuhalten und zu bewältigen, war nicht mehr so ausgeprägt wie früher. Doch Madeline war so fertig und durcheinander, dass ihr momentan einfach die Energie fehlte, etwas schonender mit ihrer Stiefmutter umzugehen.
Wieso lag Graces erste zweiteilige Wäschegarnitur – ein Weihnachtsgeschenk von Madeline – zusammen mit einem Seil und einem Dildo in einem fremden Reisetäschchen? Als das Auto verschwand, da war Grace doch gerade mal dreizehn Jahre alt gewesen!
“Wenn du dir so sicher bist bezüglich dieses … dieses Slips, dann ist es doch gar nicht nötig, Grace extra herzubestellen!”, befand Irene.
“Mom, bitte!”, entgegnete Madeline.
Chief Pontiff schaute von seinem Schreibtisch auf. Ihre Blicke begegneten sich, und als Madeline sich mit finsterer Miene abwandte, beugte auch er sich wieder über seine Arbeit. Madeline war ihm dankbar, dass er sie einfach in Ruhe ließ, statt ihnen Kaffee aufzudrängen oder dergleichen. Sie wusste, er hatte sofort an ihrem Gesichtsausdruck erkannt, dass ihr die Höschen nicht fremd waren, als er den Inhalt der Tasche zur Besichtigung auf dem Tisch drapierte.
Das Bestürzende waren ja nicht nur die Schlüpfer allein. Sondern der Zusammenhang, in dem sie mit diesem grotesk riesigen Kunststoffphallus standen.
Sie verbarg das Gesicht in ihren Händen. Bei dem Gedanken, dass sich ein Sittlichkeitsverbrecher an Grace herangemacht hatte, und zwar in einem Alter, in dem sie diese Slips getragen hatte, wurde ihr erneut ganz flau im Magen.
“Gott steh uns bei!”, wisperte sie und massierte sich die Schläfen. Der Kopf tat ihr weh, wenn auch nicht so schlimm wie das Herz. Grace hatte in der Pubertät Probleme gehabt, daran konnte sie sich noch gut erinnern. Etwa deshalb, weil sie belästigt worden war? Oder – schlimmer noch – missbraucht? Von so einem abartigen Schwein?
Ausgeschlossen. Dann hätte sie doch bestimmt etwas angedeutet …
Insgeheim wusste Madeline jedoch, dass sie sich etwas vormachte. Missbrauchsopfer schämten sich hinterher oft zu sehr, um sich mit ihrem schrecklichen Geheimnis jemandem anzuvertrauen.
“Wehe, es hat sie einer angefasst”, murmelte sie. “Dann gnade ihm Gott!”
Ihre Stiefmutter sprang auf. “Ich will Clay anrufen!”
Madeline blinzelte erschrocken. “Soll er sich das etwa auch noch ansehen?” Sie deutete ohne hinzuschauen auf die Unterhöschen und den riesigen Phallus, der beinahe über den halben Tisch reichte.
“Ich … ich brauche ihn aber an meiner Seite”, stammelte Irene.
Bei dem leicht hysterischen Tonfall meldete sich postwendend Madelines Gewissen, auch weil sie Irene kurz zuvor so lieblos behandelt hatte. Diese schroffe Art hatte ihre Stiefmutter nicht verdient, schenkte sie ihr doch die Liebe und Zuneigung, nach der sich Madeline als Heranwachsende so sehr sehnte. Hätte es keine Irene gegeben – der Himmel mochte wissen, was dann aus ihr geworden wäre!
“Das schaffen wir schon”, flüsterte sie in der Hoffnung, das werde sie trösten. “Wir kommen auch alleine klar.”
“Nein!” Trotzig schüttelte Irene den Kopf.
“Aber du kennst doch Clay! Wenn er das hier sieht, dann dreht er noch durch! Und wir wollen Grace die Sache doch nicht peinlicher machen als unbedingt nötig. Wenn da etwas Schlimmes vorgefallen ist, hat sie es offensichtlich für richtig gehalten, es uns zu verschweigen. Was meinst du, wie schwer es ihr fallen wird, hier und heute alles zuzugeben? Zumal in aller Öffentlichkeit.”
“Dann sorg doch dafür, dass sie gar nicht erst zu kommen braucht!”, sagte Irene, die Hand an Madelines Arm.
Erneut blickte Chief Pontiff auf, doch ein Kommentar war im Grunde überflüssig. Madeline wusste auch so, dass er sich nicht würde erweichen lassen. Grace musste bestätigen, was Madeline nach anfänglichen Minuten schockierten Schweigens ausgesagt hatte. “Es lässt sich nicht umgehen, fürchte ich.”
“Dann muss Clay auch kommen”, forderte Irene. “Grace braucht ihn zur Unterstützung.”
“Ich würde ihm das hier lieber ersparen”, sagte Madeline, doch es war zu spät. Irene eilte bereits zu einem der
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