Totgesagt
verlangt wurden. Und nie hat er sich beklagt, dass er es war, der die Zeche stets bezahlen musste.”
“Kein Wunder, dass Sie ihn bewundern”, sagte er leise.
“Er hat es auch mehr als verdient.”
Er schien ihre Antwort abzuwägen – grüblerisch, als betrachte er sie aus verschiedenen Blickwinkeln. “Ich kann das gut nachempfinden, Maddy, nach all dem, was er für Sie getan hat.”
Es war das erste Mal, dass er ihren Kosenamen benutzte. Aus seinem Mund hörte es sich gut an, was ihr ein bisschen Angst machte. Aber sie schüttelte das Gefühl schnell ab. Nach dem Bruch mit Kirk – der engsten Beziehung, die sie je eingegangen war – schien sie sich jetzt wieder nach der verloren gegangenen Wärme und Geborgenheit zu sehnen. Hunter war selbstbewusst bis zur Dreistigkeit; er behielt einen kühlen Kopf und hatte die Dinge im Griff. Alles an ihm erschien ihr attraktiv. Da wäre es nur zu einfach, sich mit ihm einzulassen.
Für den Moment eine einfache Schlussfolgerung, doch auf längere Sicht ein gewagtes Spiel. Er konnte schließlich nicht ewig in Stillwater bleiben. Sie wusste ja nicht einmal, was für ein Leben er in Kalifornien führte …
“Auch sein Einsatz für Grace und Molly und Ihre Mutter beeindruckt mich zutiefst”, fuhr er fort.
Er mochte noch so ehrlich erscheinen: Irgendetwas verschwieg er ihr. Sie hatte so eine Ahnung. “Aber das ändert nichts an Ihrer Einstellung zu Clay.”
Sein Blick wurde durchdringend, beinahe unangenehm direkt. “Die Umstände sagen mir, dass Sie eine Entscheidung zu treffen haben.”
Sie wusste, was jetzt kommen würde. Seit neun Jahren schob sie diese Entscheidung vor sich her. War sie bereit, auf ihrer Suche nach der Wahrheit bestimmte Vorfälle und Gespräche infrage zu stellen? Trotz ihrer Loyalität gegenüber den Montgomerys? Oder sollte sie lieber sichergehen und sich mit dem begnügen, was ihrem Gefühl nach wahr sein
musste
? Bisher hatte sie beide Wege jeweils ein bisschen verfolgt. Doch ihr war schleierhaft, wie lange das noch gut gehen konnte.
“Sie sind meine Familie”, betonte sie. “Die Einzigen, die mir davon noch geblieben sind.”
Er berührte sie an der Schulter. Sie spürte seine Körperwärme durch den Stoff ihrer Bluse. “Dann sollte ich vielleicht besser zurück nach Hause fliegen.”
Sie schüttelte seine Hand ab, weil seine Berührung sie noch mehr durcheinanderbrachte. Ihrem Körper hingegen gefiel die Zuwendung, musste sie feststellen. Unruhig fuhr Madeline sich mit den Fingern durchs Haar. Er durfte nicht abreisen. Auch wenn es Momente gab, die ihr eine Heidenangst einjagten – wie vorhin auf der Farm, als Clay ihn so bitterböse angeguckt hatte und sie ihren Stiefbruder plötzlich durch Hunters Augen betrachtete. Wenn sie sich dann an das gespannte Schweigen erinnerte, das an dem Morgen im Hause geherrscht hatte, nachdem ihr Vater verschwunden war. An das angespannte, kreidebleiche Gesicht ihrer Stiefmutter in den Tagen danach. Oder an die absolute Gefühlskälte, die Clay und besonders auch Grace in den darauffolgenden Jahren an den Tag legten, wenn sie über Lee Barker sprachen.
Aber das war doch völlig verrückt! Indem sie sich jetzt auf diese kleinen Auffälligkeiten konzentrierte, ließ sie sich doch nur von all der üblen Nachrede um sie herum beeinflussen. Die Montgomerys hatten doch für alles eine logische Erklärung. Clay hielt es für nutzlos, sich Hunter oder sonst jemandem zu offenbaren. Warum hätte er das auch tun sollen? Er konnte das Wagnis, sich aufs Neue angreifbar zu machen, nicht eingehen, insbesondere jetzt, da er Familie hatte. Irene befand sich an dem Morgen, als Lee nicht nach Hause zurückkehrte, natürlich gewaltig unter Stress. Und dass im Hause eine sonderbare Atmosphäre herrschte, nun, das war unter den Umständen ja auch kein Wunder. Alle waren gespannt gewesen, was nun passieren würde; alle hatten auf ein Lebenszeichen gewartet. Grace wurde zunehmend unnahbar und verschlossen, und das nicht nur bei Gesprächen über Madelines Vater. Vielleicht hatte das sogar mit den im Kofferraum des Cadillacs gefundenen Sachen zu tun. Doch selbst wenn Grace wirklich nicht wusste, wie ihre Unterwäsche in das Köfferchen gelangte: Es war ja bekannt, welchen Stimmungsschwankungen Teenager unterworfen waren.
Wie konnte das Vertrauen in ihre Familie durch diese albernen Verdächtigungen auch nur berührt werden? Die Montgomerys waren anständige Leute, daran gab es nichts zu rütteln, und das hatten sie
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