Totgesagt
auch immer wieder unter Beweis gestellt. Sie hatten Madeline Halt gegeben, waren stets für sie dagewesen. Dieses Verhalten war doch als Unschuldsbeweis weitaus überzeugender als angespannte Gesichter in einer Stress-Situation, die als Indiz für Schuld herhalten sollten. Oder etwa nicht?
Es war Irene, die damals zu Madelines Abiturfeier kam. Irene hielt sie in den Armen und tröstete sie, als ihr erster Freund mit ihr Schluss machte. Irene hatte ihr beim Umzug in das Cottage geholfen und war stets Anlaufstelle, wenn Madeline eine Schulter zum Ausweinen suchte. Clay kam vorbei, um ihr das Dach oder den tropfenden Wasserhahn zu reparieren, das Redaktionsbüro zu streichen oder den alten Drucker am Laufen zu halten. Mit Grace hatte sie sich über die Jahre zwar etwas auseinandergelebt, doch seit Graces Rückkehr nach Stillwater war das Verhältnis wieder deutlich enger geworden. Und was Molly anging, so hatte Madeline die Jüngste sowieso schon immer verhätschelt und bemuttert. Irene konnte das gar nicht leisten, war sie doch viel zu sehr damit beschäftigt gewesen, Clay bei der Rettung und Bewirtschaftung der Farm zu helfen. Grace blieb natürlich auf Distanz, also hatte Madeline die Betreuung der jüngsten Montgomery übernommen. Auch heute noch telefonierten sie regelmäßig miteinander, und wenn Molly zu Besuch kam, dann übernachtete sie häufig bei Madeline, mindestens ebenso oft wie bei den anderen Familienmitgliedern.
Sie näherten sich der Straßenkreuzung im Zentrum von Stillwater. Madeline stoppte vor der Ampel, fuhr jedoch nicht weiter, als das Lichtzeichen auf Grün sprang.
Hinter ihr ertönte eine Hupe.
“Und jetzt?”, fragte Hunter.
Anscheinend gereizt, weil sich noch immer nichts tat, hupte der Fahrer des Pick-up hinter ihnen ein zweites Mal, umfuhr dann einfach das Hindernis und schaute dabei böse zu Madeline hinüber.
Sie ließ den Toyota langsam anfahren. Ihre Entscheidung hatte sie inzwischen ja getroffen, nicht wahr? Sonst hätte sie Hunter doch wohl nicht engagiert. “Ich muss wissen, was mit meinem Vater ist.”
Der Satz war ihr nur im Flüsterton über die Lippen gekommen, doch sie wusste, dass Hunter sie verstanden hatte.
“Vielleicht begehen Sie damit einen schrecklichen Fehler”, antwortete er.
Tränen traten ihr in die Augen. Der Stress, die Sorge, die schlaflosen Nächte – all die Qualen forderten ihren Tribut. “Sie sind es nicht gewesen”, murmelte sie.
Hunter bemerkte, wie ihr ein paar Tränen über die Wangen liefen. Er war sich nicht sicher, ob er schon einmal eine Auftraggeberin so hatte leiden sehen. Aber er war sich sehr wohl sicher, dass Madeline eine böse Überraschung bevorstand. Vielleicht wäre es wirklich besser gewesen, sie hätte die Vergangenheit auf sich beruhen lassen.
Andererseits konnte er nachvollziehen, dass sie dazu nicht in der Lage war. An ihrer Stelle hätte er ebenfalls versucht, die Wahrheit ans Licht zu bringen. Es gab eben Menschen, die unaufhaltsam dem eigenen Schicksal zustrebten.
Hunter dachte an den Alkohol, mit dem er seine eigenen Dämonen betäubte. Er hatte selbst wahrlich genug Probleme und war drauf und dran, seiner Klientin mitzuteilen, dass er nicht mitschuldig sein wollte, wenn sich die ihren noch zuspitzten. Er hatte etwas Finsteres gespürt, als er mit Clay sprach. Einen tief vergrabenen Schmerz, eine unsichtbare Narbe. Und er fürchtete, Madelines Stiefbruder könne tatsächlich mit dem Verschwinden ihres Vaters zu tun haben. Das allerdings ließ sich nur auf eine Weise beweisen: indem er die Ermittlung weiterführte.
Mit etwas Glück landeten sie ja in einer Sackgasse, bevor es zum großen Knall kam. Falls er nicht weiterkam, musste Madeline notgedrungen akzeptieren, dass sie niemals endgültige Gewissheit haben würde. Oder sie musste einen anderen Detektiv beauftragen. Dann war er immerhin aus dem Schneider, sollte der Kollege das Geheimnis tatsächlich lüften.
Er fischte ein Taschentuch aus dem Handschuhfach und reichte es ihr, damit sie die Tränen fortwischen konnte. “Ich würde gern den Rest ihrer Familie kennenlernen”, sagte er.
Elaine Vincelli hatte knapp fünfzig Kilo Übergewicht. Aber es war gut verteilt. Ihre Schultern waren breiter als die der meisten Männer. Sie war eine robuste Frau und ihre schnörkellose, zupackende Art ließ zudem auf einen scharfen Verstand schließen.
“Was wollen Sie von mir?”, fragte sie Hunter, nachdem Madeline ihn vorgestellt hatte. Sie standen beide bereits auf
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