Totgeschwiegen
ein Flugblatt aus der Handtasche und schob es ihm hin.
Ganz oben stand Vicki Nibleys Name in großen Buchstaben, und darunter konnte Kennedy lesen: “Eine Kandidatin, die sich für Recht und Ordnung einsetzt. Eine Kandidatin, die für die Rechte von Verbrechensopfern und ihrer Familien kämpft.” Ganz unten stand eine persönliche Bemerkung – von Elaine, Marcus und Roger Vincelli. “Unterstützen Sie die einzige Kandidatin, die für Wahrheit und Gerechtigkeit kämpft.”
Kennedy starrte die Namen an und war schockiert. Joes Eltern und sein Bruder hatten sich von ihm abgewandt. Sie hatten ihn nicht einmal angerufen!
“Das kommt … überraschend”, sagte er und schaute auf.
“Was hast du denn
gedacht
, was passieren würde?”, fragte sie. “In der ganzen Stadt erzählt man sich Geschichten über dich und Grace. Du weißt ja, was diese Frau für einen Ruf hat. Warum gibst du dir nur so eine Blöße? Und dann auch noch direkt vor der Wahl?”
Kennedy schob den Sessel zurück und stand auf. “Hack doch nicht immer auf ihr herum! Sie wurde nie wegen eines Verbrechens verurteilt. Sie ist eine unschuldige Frau, die …”
“Die was?”, unterbrach sie ihn.
“Die in ihrer Kindheit misshandelt wurde. Hast du je darüber nachgedacht, warum sie sich so benommen hat?”
“Das interessiert mich nicht. Ich mache mir Sorgen um dich!” Ihre Stimme wurde brüchiger, je lauter sie sprach. Kennedy fürchtete, sie könnte jeden Moment in Tränen ausbrechen. Er konnte sich nicht daran erinnern, dass seine Mutter jemals geweint hätte. Nur, als sie ihm von der Krebserkrankung seines Vaters erzählt hatte, war es so weit gekommen. Er hatte gleich gewusst, dass es sehr ernst war, denn Camille Archer war normalerweise durch nichts aus der Bahn zu werfen.
“Ist ja gut, Mom. Mach dir keine Sorgen. Ich bring das schon wieder in Ordnung”, sagte er. Allerdings hatte er nicht die geringste Ahnung, wie ihm das gelingen sollte.
Sie war bemüht, ihre Gefühlsaufwallung unter Kontrolle zu bringen. “Das solltest du unbedingt tun”, sagte sie.
Kennedy konnte durchaus nachvollziehen, dass die Krebsdiagnose seines Vaters seine Mutter völlig aus dem Gleichgewicht brachte. Ihr ganzes Leben war nur ihm gewidmet, seinen Hoffnungen und Träumen und seiner Stadt. “Es ist doch nur eine Wahl”, versuchte er sie zu beruhigen.
“Davon will ich nichts hören. Es ist viel mehr als das!”, rief sie aus. “Das, was hier passiert, kann schlimme Konsequenzen für deinen Vater haben. Und das werde ich nicht zulassen!”
Wie konnte er sie nur beruhigen? Er wusste, dass es schwierig würde, seine Eltern, die Vincellis und alle anderen in Stillwater wieder auf seine Seite zu ziehen. “Ich bin für mich selbst verantwortlich”, sagte er. “Und ich muss das tun, was ich für richtig halte.”
“Dann tu das, was richtig ist, und halte dich von dieser Frau fern.”
Er erinnerte sich daran, dass er bereits mit Grace für das Feuerwerk verabredet war. Sie hatte versprochen, ihn anzurufen, es aber bis jetzt noch nicht getan. Er hatte das als Zusage interpretiert. “Ich bin mir nicht sicher, ob ich sie einfach so abblitzen lassen will.”
“Sie braucht dich doch überhaupt nicht.”
“Einen Freund könnte sie in dieser Stadt ganz bestimmt gebrauchen.”
“Aber nicht dich. Es wird dir nur schaden.”
Er überging ihre Antwort und fragte: “Und was ist mit den Jungs? Sollen die sich etwa auch von ihr fernhalten?”
“Selbstverständlich.”
“Aber sie sind ganz verrückt nach ihr.”
“Sie würden sie gar nicht kennen, wenn du sie nicht zusammengebracht hättest.”
“Es wird ihnen aber gar nicht gefallen, wenn sie nichts mehr mit ihr zu tun haben dürfen.”
“Natürlich wird es ihnen nicht gefallen”, antwortete Camille. “Sie spielt ja auch mit ihnen, als hätte sie sonst nichts Besseres zu tun.”
“Warum denn nicht?”, fragte er. “Sie hat doch frei.”
“Sie sollte lieber mehr arbeiten und sich weniger in der Öffentlichkeit zeigen.”
Vor allem Letzteres schien Kennedys Mutter besonders wichtig zu sein.
“Teddy und Heath sind heute morgen bei ihr gewesen”, fuhr sie fort. “Sie saßen auf dem Rasen und haben Seife und Kekse verkauft.”
“Und?”
“Sie wohnt an der Hauptstraße, zum Donnerwetter! Wer weiß, wie viele Leute sie da gesehen haben. Und zu allem Überfluss hat sie jetzt auch noch ein Wahlplakat von dir im Garten stehen.”
“Tatsächlich?”, fragte er geschmeichelt, was er sich
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