Totgeschwiegen
allerdings nicht anmerken ließ.
“Einen Tag ist sie für Vicki Nibley, den anderen für Kennedy Archer. Da kann sich doch jeder denken, dass du sie übers Wochenende tüchtig bearbeitet hast.”
“Hör auf, Mutter. Du redest ja schon so wie Joe.”
“Aber es stimmt doch.”
Kennedy dachte immer noch über das Wahlplakat nach. “Wo hat sie denn das Plakat herbekommen?”
“Woher soll ich das wissen? Vielleicht hat Teddy es ja aus der Garage geholt und rübergeschleppt.”
“Die Hauptstraße ist natürlich ein guter Ort dafür”, gab er zu bedenken.
“Aber jetzt hast du ja gesehen, was passiert …” Sie griff nach dem Flugblatt, das er auf den Schreibtisch geworfen hatte. “Du musst dir klarmachen, dass du dir nur schadest, wenn du mit ihr in Verbindung gebracht wirst, selbst wenn es nur das Plakat in ihrem Garten ist.”
“Du tust ja gerade so, als hätte Vicki Nibley schon gewonnen. Die Wahl ist doch noch gar nicht vorbei.”
“Wenn wir wegen irgendetwas verlieren können, dann wegen Grace Montgomery.”
Kennedy ging um seinen Schreibtisch herum. “Es kommt alles wieder in Ordnung, Mom.” Er hätte sie jetzt gern umarmt, aber er wusste, dass sie das nicht mochte. Sie reagierte dann immer steif und ablehnend. Seine Mutter hatte ihn immer geliebt, aber sie hatte ihn nicht liebkost. Zu viel menschliche Nähe war ihr unbehaglich. Sie drückte ihre Zuneigung lieber durch Zurechtweisung aus und half ihm ansonsten, soweit ihre Kräfte es zuließen. In dieser Hinsicht glichen sich seine Eltern sehr.
“Warum hast du sie mit an den See genommen?”, fragte sie und setzte sich auf einen Stuhl.
“Es gab viele Gründe. Vor allem erinnerte ich mich an das arme kleine Mädchen, das nicht das bekommen hatte, was es verdiente.”
“Was soll das nun wieder heißen? Sie konnte doch von Glück sagen, dass Lee Barker sich ihrer Familie angenommen und ihnen ein Dach über dem Kopf gegeben hat.”
“Ein Kind braucht aber noch mehr, Mom.”
“Was meinst du denn damit?”
Kennedy zuckte mit den Schultern. Er suchte nach einer Erklärung, die sie verstehen und dazu bringen würde, Grace zu unterstützen. In gewisser Weise konnte er Joes Familie ja verstehen; sie fühlten sich ungerecht behandelt. Aber sie waren eben nicht die Einzigen, auf die man Rücksicht nehmen musste. Was Grace zugestoßen war, war noch viel schlimmer. “Ich glaube, sie wurde missbraucht”, sagte er.
Camille verzog das Gesicht und schaute ihn ungläubig an. “Oje, solche Entschuldigungen hat sie dir also aufgetischt. Ich gehe jede Wette ein, dass das eine Lüge ist. Merkst du denn nicht, dass sie versucht, dich zu beeinflussen?”
Kennedy dachte an den kurzen Moment, als er Grace nach ihrem Stiefvater gefragt hatte. Ganz offensichtlich hatte seine Mutter unrecht. Diesen Ausdruck von Verzweiflung auf ihrem Gesicht hätte niemand spielen können. Auch die Art, wie sie es schließlich zugegeben hatte, sprach dafür, dass es stimmte. “Sie hat mir nicht erzählt, dass sie missbraucht wurde. Ich habe es selbst herausgefunden.”
“So? Wie denn?”, fragte seine Mutter und lehnte sich neugierig nach vorn.
“Ich hab’s irgendwie gespürt.”
“Ach was. Sie ist hinter dem Geld her, genau wie ihre Mutter.”
“Das stimmt nicht.”
“Dann zeig mir jemanden, der jemals einen Kratzer bei ihr gesehen hat.”
Kennedy senkte die Stimme. “Es gibt auch noch andere Arten von Missbrauch.”
“Lee Barker war Reverend! Ich will nur hoffen, dass du nicht das andeuten willst, was ich jetzt glaube. Wenn du nämlich falsch liegst, wird das alles auf dich zurückfallen.”
“Ich deutete nichts an, ich habe Beweise.”
Seine Mutter starrte ihn eine Weile wortlos an, dann lenkte sie ein. “Was denn für Beweise?”
Kennedy fiel wieder ein, wie nah Joe der Stelle gewesen war, an der er die Bibel vergraben hatte. Er machte sich Sorgen deswegen. Er war schon kurz davor, sie wieder auszugraben, aber er hatte keine Gelegenheit mehr dazu gehabt. Wahrscheinlich war er nur ein bisschen paranoid. Wenn Joe irgendetwas über die Bibel wüsste, wäre er damit schon längst zur Polizei gelaufen. So etwas könnte er niemals für sich behalten. “Das spielt jetzt keine Rolle”, sagte er. “Wichtig ist nur, dass du weißt, dass nicht alles so ist, wie wir immer geglaubt haben.”
Camille unterbrach ihre Maniküre. “Dann bring diesen Beweis an die Öffentlichkeit, sodass es
alle
erfahren”, sagte sie und sah ihn an.
“Das geht nicht.” Er
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