Totgeschwiegen
schwächte sich ab. Grace wünschte, ihre Mutter wäre vor achtzehn Jahren so auf sie zugegangen.
“Evonnes Haus ist wirklich schön, nicht wahr?”, sagte Irene nach einer Weile.
“Ja. Ich mag es sehr gern.”
“Hast du vor, länger zu bleiben?”
“Drei Monate vielleicht.”
“Drei Monate! Das ist ja toll!” Irene ließ die Hand ihrer Tochter los und stand auf. “Du weißt doch, dass ich dich liebe, Grace. Vielleicht habe ich es nicht oft genug gesagt, vielleicht habe ich mich nicht richtig um dich gekümmert, aber du sollst wissen, dass ich dich immer geliebt habe.”
Grace wusste nicht, was sie darauf antworten sollte. Und so stellte sie die Frage, die sie schon viel früher hatte aussprechen wollen. “Glaubst du, etwas Schlimmes ist aus der Welt, weil man die Augen davor verschließt?”
Irene sah sie eine ganze Weile an. Die Frage hatte sie tief getroffen. “Wem nützt es, wenn man ständig darauf herumreitet? Ich hoffe, du kannst mir eines Tages verzeihen.” Sie ging zum anderen Ende der Veranda, und ihre Absätze klapperten über die Holzbohlen, bis das Geräusch ihrer Schritte vom Rasen abgedämpft wurde. “Ich hab noch eine Verabredung. Ruf mich doch später an, falls … falls du es möchtest.”
“Das tue ich bestimmt”, versicherte Grace und sah ihrer Mutter nach, wie sie durch den Vorgarten zur Straße stolzierte.
In der Pizzeria war es angenehm kühl. Grace hatte geduscht, bevor sie losgegangen war, fühlte sich aber schon wieder verschwitzt. Jetzt am Nachmittag war die Hitze beinahe unerträglich. Es war schwül und stickig, aber der Regen ließ noch immer auf sich warten. Wahrscheinlich würde es erst heute Abend anfangen zu tröpfeln.
“Bitte sehr, Ihre Pizza.”
Die jugendliche Kellnerin stellte schwungvoll einen Teller vor sie hin. Grace schob ihren Salatteller ein Stück zur Seite und schaute zur Tür, wo gerade eine Gruppe Männer eintrat.
Sie bedankte sich bei der Kellnerin und vermied es, sie zu lange anzusehen. Sie wollte jetzt nicht in irgendein Gespräch verwickelt werden. Sie war nur hergekommen, um eine Kleinigkeit zu essen und sich ein wenig von der Hitze zu erholen.
Aber ein paar Minuten später hörte sie, wie die Männer über sie sprachen.
“Doch, Tim, das ist sie ganz bestimmt.”
“Die
willige Gracie?
Glaub ich nicht.”
“Aber ja! Rex Peters hat mir erzählt, dass sie zurückgekommen ist.”
“Warum denn?”, fragte ein anderer. “Ich dachte, sie ist jetzt Staatsanwältin irgendwo. Es stand in der Zeitung.”
Grace konnte die Antwort nicht verstehen. Sie nahm sich vor, die Männer zu ignorieren und sich auf ihr Essen zu konzentrieren. Aber wenig später stieß einer einen leisen Pfiff aus und machte eine Bemerkung darüber, wie gut sie aussah. Sie konnte einfach nicht anders. Sie musste einen Blick hinüberwerfen.
Einer der Männer stand mit dem Rücken zu ihr am Tresen und gab seine Bestellung auf. Die anderen vier kannte sie von früher. Auf der Highschool waren sie gute Sportler, und Grace hatte sie bewundert. Aber diese Begegnung war ihr schrecklich peinlich, und sie wäre am liebsten davongerannt. Die alten Zeiten waren längst vorbei. Sie hatte sich verändert.
“Vielleicht würden wir sie ja besser erkennen, wenn sie keine Klamotten anhätte”, sagte Joe Vincelli und kicherte dabei auf seine typische Art, an die Grace sich jetzt wieder erinnerte. Lee Barkers Neffe. Der Reverend hatte ihn immer bevorzugt behandelt. Auch an ihren wenig schmeichelhaften Spitznamen erinnerte sie sich wieder. Irgendeiner hatte ihn auf die Tür ihres Spinds geschrieben.
“Sei doch still, sie hört uns doch”, sagte ein anderer. War das Buzz Harte? Sie war sich nicht sicher. Er hatte sich am meisten verändert, jedenfalls war von seiner einstigen Haarpracht nicht mehr viel übrig.
Sie lästerten weiter, lachten laut, und Grace wurde die Situation immer peinlicher. Ihr Herz begann heftig zu pochen. Sie starrte verlegen auf ihren Teller. Vor vierzehn oder fünfzehn Jahren hatte sie Sex mit drei dieser Männer gehabt, mal auf dem Rücksitz eines Autos, mal in einem Hauseingang. Anscheinend hatten diese Männer angenehmere Erinnerungen daran als sie. Sie konnte nicht mehr verstehen, dass sie diese Kerle überhaupt an sich rangelassen hatte, vor allem die, die auf die gleiche Schule gingen.
Aber damals hatte sie nach etwas gesucht, was sie nirgendwo finden konnte …
Sie fühlte sich schwach und verletzlich und fragte sich, wie sie aus diesem Lokal
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