Totgeschwiegen
gespürt haben, dass die Spannung zwischen ihm und seinen Stiefkindern immer größer wurde. Offenbar blendete sie bestimmte Teile der Vergangenheit einfach aus. Und doch war Grace davon überzeugt, dass die Ermittlungen gegen Irene Barker sich über Jahre erstreckt hätten, hätte Madeline sich nicht so für ihre Stiefmutter eingesetzt und sie als aufopferungsvolle Mutter und Ehefrau beschrieben. Womöglich wäre die Sache sogar ohne Leiche vor Gericht gekommen. “Aber ausgerechnet
Jed
, Maddy? Er ist doch überhaupt nicht gewalttätig.”
“Auf jeden Fall hat er nicht die Wahrheit gesagt.”
Wollte Madeline die Wahrheit wirklich wissen? Grace hätte ihr am liebsten vorgeschlagen, ihren Vater endlich zu vergessen und sich damit abzufinden, dass er für immer verschwunden war, ohne eine Spur zu hinterlassen. Die Wahrheit würde für sie nur noch mehr Leid bedeuten. Dann würde sie ihre Mutter und ihre Geschwister verlieren. War es das wirklich wert?
“Du warst an diesem Abend doch gar nicht zu Hause.” Madeline hatte die Nacht bei einer Freundin verbracht und nichts von den Geschehnissen mitbekommen. Aber auch sonst waren ihr viele Dinge überhaupt nicht aufgefallen, dafür hatte Reverend Barker gesorgt.
“Jed hat mal was Merkwürdiges zu mir gesagt, als ich meinen Jeep bei ihm abgeholt habe”, mischte Kirk sich ein.
Grace schaute ihr Spiegelbild im Fenster an. “Was denn?”
“Ich hatte ihn gefragt, was in dieser Nacht passiert ist. Zuerst sagte er nicht viel, nur das Gleiche wie immer. Aber als ich wissen wollte, was
er
glaubt, da antwortete er, dass Lee Barker genau das bekommen hat, was er verdient hat.”
Ein kalter Schauer lief Grace über den Rücken.
“Was er
verdient
hat”, wiederholte Madeline. “Siehst du, Grace? Mein Dad war Reverend, um Himmels willen. Er war ein guter Mensch! Wieso sollte er eine Strafe
verdienen?”
Grace schloss die Augen und spürte, wie schwer die Schuld wog, die sie auf sich geladen hatte. “Das bedeutet doch nichts weiter, als dass Jed ihn nicht leiden konnte.”
“Nein, es bedeutet mehr als das”, widersprach Madeline. “Und ich werde es beweisen.”
An diesem Abend begann es, ausgiebig zu regnen. Zum ersten Mal seit ihrem Einzug fühlte Grace sich in Evonnes Haus unwohl. Sie saß auf dem Sofa im Wohnzimmer und sah zu, wie das Wasser die Fensterscheiben herablief. Ihre Unterhaltung mit Madeline und Kirk hatte sie aus dem Gleichgewicht gebracht, das Unwetter tat sein Übriges dazu. Sie sah wieder die großen Pfützen vor sich, die sich gebildet hatten. Der Boden war aufgeweicht. Dicke Tropfen fielen aus dem Laub, und alles war nass und die Zeit viel zu knapp, um die Grube tief genug ausheben zu können.
Trotzdem hatte in den vergangenen fünfzehn Jahren niemand das Grab von Lee Barker entdeckt.
Sie schenkte sich noch etwas Wein ein. Was, wenn es Madeline gelang, die Polizei davon zu überzeugen, dass Jed ihren Vater auf dem Gewissen hatte? Würde er versuchen, seine Unschuld zu beweisen? Würde er alles erzählen, was er wusste? Und was wusste er eigentlich? Wie konnte sie ihrer Stiefschwester jemals wieder unter die Augen treten, wenn die Wahrheit ans Tageslicht kam?
Sie nippte an ihrem Chardonnay und erinnerte sich an ihre Begegnung mit Clay vor einer Woche. Sie hatte ihm erklärt, dass sie hergekommen war, um herauszufinden, ob sie den Schleier lüften sollte oder nicht. Aber das war eine Lüge. Ihr waren die Hände gebunden, und das wussten sie beide sehr gut. Sie hätte die Wahrheit schon vor vielen Jahren erzählen müssen. Jetzt war es zu spät dafür.
Aber warum war sie dann gekommen? Um sich für ihr jahrelanges Schweigen zu rechtfertigen. Um damit klarzukommen, dass sie für immer damit leben musste. Mehr nicht.
Sie versuchte die düstere Vorahnung, die sie ergriffen hatte, wieder abzuschütteln. Dann stellte sie das Glas ab und griff nach dem Handy, das neben ihr auf dem Sofa lag, und rief Clay an.
“Hallo?”
Die tiefe feste Stimme ihres Bruders erfüllte sie wieder mit Zuversicht. “Ich hasse diese regnerischen Abende”, sagte sie ohne Einleitung. “Hast du nicht das Gefühl, du musst dich mit deinem Gewehr auf die Veranda setzen und auf alles vorbereitet sein?”
Clay antwortete nicht gleich. “Mach dir keine Sorgen, Grace. Es passiert nichts. Nicht, solange ich da bin.”
Sie strich sich nervös über den Unterarm, auf dem sich eine Gänsehaut gebildet hatte. “Aber dieser Regen …”
“Ist doch bloß Regen.”
“Ist es
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