Totgeschwiegen
Wahrheit ungeschehen machen.
“Sie muss herausgefallen sein. Einmal hab ich es bemerkt. Auf den Stufen der Veranda.”
“Aber das wäre uns doch aufgefallen.”
“Woher willst du das wissen?”, fragte Grace. “Es war doch so dunkel. Und kannst du dich wirklich
an alles
erinnern? Konntest du noch klar denken?”
Grace fragte sich, ob sie in dieser Nacht überhaupt noch hatten denken können. Clay hatte die Initiative übernommen. Die Leiche zu vergraben und anschließend das Auto ihres Stiefvaters im Steinbruch zu verstecken, das war alles seine Idee. Und damit lebten sie jetzt schon seit achtzehn Jahren.
Was hätten sie auch sonst tun sollen? Die Polizei rufen kam nicht infrage. Grace wusste das heute so gut wie damals. Niemand in Stillwater hätte ihnen geglaubt; niemand hätte ihnen zugehört. Stattdessen hätten alle Vergeltung für den Tod ihres geliebten Reverends gefordert.
“Wir waren doch so vorsichtig”, sagte er.
“Offenbar nicht vorsichtig genug.”
“Aber Jed hat nie etwas von der Bibel gesagt.” Clay rieb sich mit der Hand über die Wangen. “Jedenfalls nicht zu mir. Nicht zu Mom. Nicht zur Polizei. Warum?”
“Ich weiß es nicht.”
Er setzte sich auf den Rand des Tisches neben sie. “Und wo, glaubst du, ist sie jetzt?”
“Kennedy Archer oder Joe Vincelli haben sie bestimmt gefunden. Anders kann ich es mir nicht vorstellen.”
Clay schien neue Hoffnung zu schöpfen. “Vielleicht haben sie sie ja gar nicht bemerkt. Wir sollten morgen hingehen und danach suchen.”
Grace schüttelte den Kopf. “Nein. Ich weiß ganz genau, wo ich sie verloren habe.”
Es musste passiert sein, als sie mit Kennedy gerungen hatte. Kurz zuvor hatte sie die Bibel noch bei sich gehabt. Aber sie wollte nichts von dieser kleinen Rangelei erzählen. Niemand musste erfahren, dass Kennedy sie überwältigt und wieder freigelassen hatte. Sie hatte die Bibel verloren, als sie weglaufen wollte. So wollte sie es erzählen.
Dennoch kam sie nicht umhin, sich eine Frage zu stellen, auch wenn sie so tat, als sei das gar nicht wichtig:
Warum hatte er ihr geholfen?
“Als die Luft wieder rein war, hab ich den ganzen Platz abgesucht”, sagte sie. “Das Buch war weg.”
Clay stand auf und fing wieder an, hin und her zu gehen. “Joe Vincelli wird es bestimmt der Polizei übergeben.”
“Ich weiß.”
“Und Kennedy Archer auch.”
Grace antwortete nicht sofort. Sie war sich nicht sicher, was Kennedy betraf. Sie konnte noch immer nicht glauben, dass er sie hatte laufen lassen, und fragte sich, ob er es wohl schon bereute.
“Er wird es wohl tun müssen”, stellte sie fest. “Schließlich will er Bürgermeister werden.”
“Es ist wohl besser, wenn ich Mom anrufe”, sagte Clay. “Sie sollte vorbereitet sein, falls …”
Es klopfte an der Tür. War das Joe? Oder Kennedy? Die Polizei?
Grace’ Nerven waren zum Zerreißen gespannt. Hatte sie nicht genau das erwartet? Dass eines Tages jemand so an die Tür klopfen und dann das Unheil über sie hereinbrechen würde? Als sie noch jung gewesen war, hatte sie jeden Tag die Rückkehr des Reverends gefürchtet. Jetzt fürchtete sie die, die kommen würden, um nach seinem Verbleib zu fragen.
“Geh nach oben”, flüsterte Clay. “Ich krieg das schon hin.”
Grace hatte ihren Wagen auf dem Kiesplatz hinter dem Haus geparkt, damit es von der Straße aus nicht zu sehen war. Sie wollte schon nach draußen laufen, um wegzufahren, solange es noch möglich war. Aber dann hörte sie Madelines Stimme.
“Hallo, Clay! Hörst du mich? Clay, mach bitte auf!”
Clay ging nicht sofort hin. Er schaute Grace an. “Weiß sie von der Bibel?”
“Falls sie davon weiß, wird es nicht lange dauern, und alles bricht über uns zusammen. Sie wird direkt zu Jed gehen und ihn fragen, wo er sie gefunden hat.”
“Aber warum sollte er ihr das sagen?”
Grace ließ den Kopf hängen. “Natürlich wird er es ihr erzählen. Er muss es tun. Sonst werden sie ihn lynchen.”
“Clay?” Madeline schlug mit den Fäusten gegen die Tür. “Beeil dich doch, los! Ich kann Grace nirgends finden.”
Clay drückte Grace’ Arm und ging durch das Wohnzimmer zur Eingangstür.
Madeline drängte sich herein, kaum dass er die Tür geöffnet hatte. “Oh Gott, Clay. Diesmal hab ich es getan. Und ich habe Grace dazu überredet …”
Sie hielt inne, als sie Grace auf dem Tisch sitzen sah. Sie rannte in die Küche und umarmte sie. “Da bist du ja! Es tut mir so leid! Ist alles in
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