Totgeschwiegen
Ordnung?”
“Ja, alles okay.” Grace warf Clay über die Schulter von Madeline einen Blick zu. Ganz offensichtlich wusste ihre Stiefschwester nichts von der Bibel, sonst hätte sie bestimmt anders reagiert. Hätte Joe sie gefunden, hätte er sie sofort der Polizei übergeben, damit alle endlich glaubten, was er immer behauptet hatte. Das bedeutete, dass Kennedy Archer sie gefunden hatte.
“Ich bin so froh, dass du in Sicherheit bist”, sagte Madeline. “Es tut mir so leid, dass ich dich dazu überredet habe.”
“Ist schon in Ordnung”, sagte Grace. “Was ist denn nun eigentlich noch passiert?”
“Sie haben mich auf der Straße geschnappt.” Madeline hob stolz den Kopf. “Aber ich habe mich nicht kampflos ergeben.”
Die Prellung an ihrer Wange war der Beweis für ihre Behauptung.
Jetzt erst bemerkte Madeline die Kratzwunden an Grace’ nackten Beinen, ihren Händen und in ihrem Gesicht. “Um Himmels Willen, wie siehst du denn aus!”, rief sie aus. “Dich hat es ja viel schlimmer erwischt als mich.”
“Ich hab mich in den Brombeerbüschen am Fluss versteckt.”
“Sie haben dich also nicht gefunden?”
Grace erinnerte sich, wie der muskulöse Körper von Kennedy sich auf sie gesenkt hatte, an seine kräftigen Arme und Hände, und sie spürte ein merkwürdiges Gefühl im Unterleib.
Ich wollte dir doch nicht wehtun …
Eigenartig. Er und seinesgleichen waren doch auf nichts anderes aus, als andere zu verletzen. Das erklärte zwar nicht, warum er sie freigelassen hatte, aber … ganz offensichtlich ist er nicht ganz bei sich gewesen. “Nein, sie haben mich nicht gefunden.”
“Gut. Sie wissen, dass
irgendjemand
bei mir war, aber ich hab ihnen nicht gesagt, wer es war. Ich glaube auch nicht, dass sie Interesse daran haben, die Angelegenheit an die große Glocke zu hängen. Sie wissen ja, warum ich dort war. Sie wissen, dass ich nichts mitgenommen habe und dass ich für den Schaden aufkomme.”
“Das ist gut”, sagte Grace, aber es fiel ihr schwer, zu lächeln und erleichtert zu tun. Ganz bestimmt würde Kennedy ihr schon bald auf die Pelle rücken. Die Sache mit der Bibel war zu offensichtlich.
Und sie konnte sich jetzt schon ausmalen, wie Madeline reagieren würde, wenn Kennedy die Sache publik machte.
Kennedy saß in seiner Küche. Das Buch, das er im Wald gefunden hatte, war tatsächlich eine Bibel, aber nicht irgendeine Bibel. Diese hier hatte einmal Reverend Lee Barker gehört. Sein Name war auf dem Umschlag eingeprägt, und innen waren die Seiten mit handschriftlichen Anmerkungen von ihm übersät. Kennedy erinnert sich noch sehr gut daran, wie der Reverend das Buch immer aus seiner Tasche gezogen hatte.
Nachdenklich blätterte er die dünnen Seiten durch. Die Anmerkungen an den Rändern waren beunruhigend, denn sie entlarvten den Besitzer der Bibel als rechthaberischen Menschen, dem offenbar mehr daran gelegen war, sein eigenes Wort durchzusetzen als das Wort Gottes. Kennedy war noch jung, als der Reverend verschwand, aber die Anmerkungen in diesem Buch, das er jetzt schon seit Stunden durchblätterte, zeichneten das Bild eines Mannes, der ganz anders war, als Kennedy ihn in Erinnerung hatte – ganz anders auch als der fromme Mann, als der er vor seiner Gemeinde immer aufgetreten war.
Es gab auch eine ganze Seite, auf der der Reverend seine Ansichten über Grace aufgeschrieben hatte. Dort stand, was sie gesagt hatte, was sie tat und wie sie aussah. Einige poetische Ausführungen schienen ebenfalls ihr gewidmet zu sein. Wer weiß, dachte Kennedy, ob nicht noch mehr dahintersteckte als nur das, was hier geschrieben stand …
Er versuchte, seine Gedanken in eine andere Richtung zu lenken. Vielleicht war Barker ja einfach nur ganz besonders glücklich über seine Stieftochter.
Aber seltsamerweise gab es keine Bemerkungen über Molly. Warum hatte er sich nur mit Grace befasst?
Kennedy fand keinen vernünftigen Grund dafür. Egal wie er den Text las, er hatte immer ein ungutes Gefühl dabei. Ganz offensichtlich war der Reverend von seiner Stieftochter Grace geradezu besessen.
Kennedy lief es eiskalt den Rücken hinunter. Er klappte die Bibel zu und schob sie von sich, doch der eingeprägte Name des Reverends zog ihn immer wieder an. Vor achtzehn Jahren war Grace noch ein junges Mädchen, genauso alt wie er.
Er stand auf, ging zum Fenster und schaute auf die Straße, die zur Autobahn führte. Was er jetzt dachte, konnte einfach nicht wahr sein. Der Reverend ist doch ein Mann
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