Totgeschwiegen
wiederum verstand er nicht.
Vielleicht, weil sie eine echte Herausforderung darstellte. Es war ihm immer sehr leichtgefallen, Freundschaften zu schließen, und er hatte noch nie erlebt, dass jemand ihm so viel Widerstand entgegensetzte.
Es konnte natürlich auch sein, dass er ihr helfen und ihr Leben beeinflussen wollte, wie einst Raelynn sein Leben beeinflusst hatte. Grace brauchte einen Freund. Er spürte die Verpflichtung gutzumachen, was sie früher erlitten hatte.
“Wie meinst du das?”, fragte Kennedy.
“Ich glaube, es war Kirk Vantassel”, sagte Joe.
Sie machten sich gemeinsam auf den Weg, um den Wald zu verlassen.
Kirk war größer als Joe, und da er gerade erklärt hatte, dass der Flüchtige klein gewesen war, wunderte sich Kennedy und fragte nach: “Wie kommst du denn auf Kirk?”
“Weil die andere Person Madeline Barker gewesen ist. Sie ist zusammen mit ihm eingebrochen. Wir haben sie auf der Straße erwischt.”
Der Regen hatte Kennedys Hemd durchgeweicht. Der Baumwollstoff klebte an seinem Oberkörper. Ganz vorsichtig versuchte er, das Buch zur Seite zu schieben, damit Joe es nicht sehen konnte. “Madeline ist doch eine angesehene Bürgerin. Warum sollte sie in Jeds Werkstatt einbrechen?”
“Sie ist überzeugt davon, dass er ihren Vater getötet hat. Hat uns erklärt, sie hätte nach Beweisen gesucht.”
Das machte Sinn. Madeline war ständig dabei, neue Theorien über das Verschwinden ihres Vaters zu erfinden. Einige davon hatte sie sogar in ihrer Zeitung abgedruckt. Vielleicht hatte sie ja eine neue Spur gefunden.
Kennedy konnte sich gut vorstellen, wie erpicht sie darauf war, dieser Spur nachzugehen. Auf ihre Stiefmutter und deren Kinder ließ sie nichts kommen. Viele Jahre lang hatte sie sie verteidigt. Er konnte sich sogar vorstellen, dass sie Grace überredet hatte, ihr bei diesem Einbruch zu helfen. Könnte es also sein, dass das Buch, das er jetzt bei sich trug, ein Beweisstück darstellte?
“Hat Madeline denn
zugegeben
, dass Kirk bei ihr war?”, fragte er.
“Sie behauptet, sie sei allein gewesen. Aber als Les mir erzählte, dass du hinter einer anderen Person her warst, war mir klar, dass das nicht stimmt.”
Kennedy folgte dem hellen Kreis, den Joes Taschenlampe auf den Boden warf. Er hätte gern einen Blick hinter sich geworfen, aber er traute sich nicht. Grace würde bestimmt so lange warten, bis er Joe losgeworden war, bevor sie sich auf den Weg nach Hause machte. “Habt ihr sie der Polizei übergeben?”
“Nein. Sie hat versprochen, sie würde den Schaden bezahlen, den sie verursacht hat. Also haben wir sie laufen lassen. Sie hat schon genug mitgemacht.”
Sie erreichten das mondbeschienene Brachland.
“Dass ihr Vater verschwunden ist, hat ihr schwer zu schaffen gemacht”, sagte Kennedy. Und weil das Wetter dafür einen guten Grund lieferte, begann er zu laufen. Er wollte Joe so schnell wie möglich von hier weglotsen. Das Buch, das er an seiner Seite spürte, hatte einen Ledereinband und hatte das Format einer Bibel. Aber das war nicht möglich, oder? Soweit er wusste, war Grace nicht besonders religiös, genauso wenig wie ihre Familie. Ein paar Jahre nach dem Verschwinden des Reverends waren die Montgomerys aus der Kirche ausgetreten. Daraufhin hatten die Leute in der Stadt noch einen weiteren Grund gehabt, auf sie zu zeigen und sie als gottlose Menschen zu brandmarken. Andererseits konnte Kennedy auch nicht glauben, dass sie in die Werkstatt eingebrochen war, um eine Bibel zu stehlen. Selbst wenn Jed dort eine gehabt hatte, gab es keinen vernünftigen Grund dafür.
“Das Verschwinden deines Onkels hat bestimmt die ganze Montgomery-Familie schwer getroffen”, sagte er, um das Gespräch nicht abbrechen zu lassen.
“Ach was”, sagte Joe, der auch losgejoggt war und nun neben ihm lief. “Wenn du mich fragst, sollte Madeline mal ein bisschen näher bei sich zu Hause suchen, wenn sie Antworten finden will. Es ist genau so, wie ich dir schon in deinem Büro gesagt habe: Du solltest McCormick dazu bringen, den Fall neu aufzurollen. Das hier wäre jedenfalls nicht passiert, wenn sich die Polizei darum gekümmert hätte.”
Kennedy strich sich die nassen Haare aus der Stirn. “Du meinst, wir würden Madeline einen Gefallen tun, wenn wir ihre Familie verdächtigen?”
Kennedy wusste, dass Joe die Sache nicht zum Wohl von Madeline verfolgte. Wäre das jetzt nicht eine Gelegenheit gewesen, Grace in anderem Licht erscheinen zu lassen, indem er Joe mitteilte,
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