Totgeschwiegen
paar Wochen oder Monaten würde Grace Stillwater wieder verlassen, und dann
musste
er sie vergessen.
Joe wartete, bis Kennedy eingeschlafen war, dann kroch er wieder aus seinem Zelt. Er konnte kaum glauben, was Kennedy vorhin zu ihm gesagt hatte – diesen ganzen Unsinn über seltene Blumen, die an kargen Orten blühten und irgendwelche Wunder. Für Joe war Grace keine seltene Blume. Er bezweifelte ja nicht, dass sie sehr gut aussah. Aber sie und ihre Familie hatten einen Mord auf dem Gewissen, und seither führten sie alle an der Nase herum.
Der größte Witz war, dass Grace Staatsanwältin geworden war. Viel weniger verwunderlich aber, dass sie nie einen Fall verlor. Sie konnte sich wahrscheinlich nur allzu gut in die Psyche eines Mörders hineinversetzen und kannte alle Vertuschungsstrategien – entweder aus eigener Erfahrung, oder sie hatte sie am Beispiel ihrer Mutter und ihres Bruders Clay kennengelernt.
Und jetzt hatte sie auch noch die Nerven zu glauben, sie könnte in ihre Heimatstadt zurückkehren und allen eine lange Nase machen, die sie früher gekannt hatte …
Doch genau das wollte Joe nicht zulassen. Er nahm die Taschenlampe vom Campingtisch, wo Kennedy sie hingelegt hatte, und ging damit Richtung Waschräume. Er wollte wissen, was Kennedy und Grace dort gemacht hatten. Es war wirklich kaum zu glauben, dass sie zur selben Zeit ihr Zelt verließen, um unabhängig voneinander mitten in der Nacht durch den Wald zu streifen.
Die naheliegende Antwort war, dass sie miteinander rumgemacht hatten, aber das glaubte Joe gar nicht. Dazu war die Situation nicht entspannt genug. Sie hatten regelrecht unter Strom gestanden, und das brachte Joe zu der Ansicht, dass es nicht um Sex gegangen war.
Aber worum dann? Was hatten sie zusammen im Wald gemacht?
Er lief den Pfad entlang zu der Stelle, wo er Kennedy vorhin aufgestöbert hatte, schaltete seine Lampe ein und suchte nach Spuren, die die beiden hinterlassen hatten. Er wusste nicht genau, wonach er suchte. Eine Kondomverpackung? Eine Decke? Aber Kennedy musste irgendeinen Grund gehabt haben, im Wald herumzulaufen. Joe ist schon dutzende Male mit ihm Zelten gewesen seit Raelynns Tod, und nie zuvor war Kennedy mitten in der Nacht aufgestanden. Es gab nicht viele Leute, die frühmorgens um drei Uhr in den Wald gingen, um “nachzudenken”.
Der Geruch von Kiefernnadeln stieg in seine Nase. Er entdeckte etwas Glänzendes, aber es war nur eine zerbeulte Bierdose. Auch eine Zigarettenkippe und ein nasses Papierhandtuch fand er, aber das war alles nur Müll, den jemand anders hier hinterlassen hatte.
Es war einfach zu dunkel, um etwas zu finden. Er nahm sich vor, am Morgen wiederzukommen, und trottete zurück zu seinem Zelt.
Das Gezwitscher der Vögel weckte Joe gleich nach Sonnenaufgang. Heath und Teddy wälzten sich auch schon herum. Sie krochen alle zur selben Zeit aus den Zelten. Joe murmelte, er müsse zur Toilette, und beeilte sich, in den Wald zu kommen, um dort noch mal zu suchen.
Aber selbst im Sonnenlicht, das durch das Blätterdach drang, konnte er nichts Ungewöhnliches an der Stelle entdecken, an der Kennedy und Grace sich letzte Nacht aufgehalten hatten. Es gab keine Hinweise darauf, was sie wohl getan hatten. Das Einzige war eine kleine Senke, vor einem Baum, die so aussah, als ob da gegraben worden wäre, aber …
Er trat näher und stieß gegen einen Erdklumpen.
“Willst du etwa in den Wald pinkeln, so wie im letzten Jahr, Onkel Joe?”
Joe wirbelte herum und stellte fest, dass Kennedy und Teddy ihm gefolgt waren.
“Ja”, sagte er so neutral wie möglich. “Ich hasse diese öffentlichen Toiletten.”
“Da stinkt es immer.” Teddy rümpfte die Nase und blickte hoch zu seinem Vater. “Darf ich auch hier pinkeln? Darf ich, Dad?”
Kennedy warf Joe einen etwas zu langen Blick zu und sagte: “Nein.”
“Warum nicht?”, fragte Teddy.
“Weil die Toiletten nur ein paar Meter entfernt sind.”
“Aber da
stinkt
es.”
“Du wirst es überleben”, sagte Kennedy und schob seinen Sohn durchs Unterholz.
Joe schaute ihnen nach. Dann pinkelte er gegen den nächstliegenden Baumstamm, einfach um mal etwas zu tun, was ein Archer nicht tun durfte. Es war ihm scheißegal, ob die Toiletten
nur ein paar Meter
entfernt waren. Er tat, was er wollte – und wenn Grace jetzt zufällig hier auftauchen würde, umso besser. Er würde ihr sehr gern zeigen, dass er inzwischen mehr zu bieten hatte als zu der Zeit, als sie noch jung gewesen waren.
Er
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