Toxin
gelangen. Das Fenster war inzwischen mit Brettern zugenagelt worden.
»Wie soll es jetzt weitergehen?« fragte Tracy, als Kim keine Anstalten machte auszusteigen.
Kim seufzte. »Ich muß unbedingt ins Krankenhaus. Tom hat mir versprochen, vorerst nach meinen stationären Patienten zu sehen, aber ich muß mich auch mal blicken lassen. Danach könnte ich bei Kelly Anderson vorbeifahren. Ich weiß zufällig, wo sie wohnt.«
»Wir müssen ein paar Entscheidungen für Beckys Beerdigung treffen«, sagte Tracy. Kim nickte und starrte vor sich hin.
»Ich weiß, wie schwierig es ist«, fuhr Tracy fort. »Aber wir müssen uns darum kümmern. Vielleicht hilft uns das sogar, ihren Tod zu akzeptieren.« Kim biß sich auf die Lippe.
»Daß man wütend ist und den Tod nicht wahrhaben will, gehört zum Trauern dazu«, erklärte Tracy, als Kim nicht antwortete. »Mir geht es genauso wie dir. Aber wir müssen auch unsere letzte Pflicht erfüllen.«
Kim schaute sie mit Tränen in den Augen an. »Du hast recht«, gestand er. »Aber ich habe es dir ja schon gesagt - ich brauche noch ein wenig Zeit. Wäre es zuviel verlangt, wenn ich dich bitten würde, die Beerdigungsangelegenheiten ohne mich zu regeln? Ich weiß, was ich dir damit zumute. Ich bin selbstverständlich mit allem einverstanden, und zur Beerdigung komme ich natürlich auch. Aber im Augenblick würde ich mich lieber darum kümmern, Kelly Anderson für uns zu gewinnen.« Tracy starrte ihn an und trommelte mit den Fingern auf dem Lenkrad herum. Im ersten Moment wollte sie ihm vorwerfen, daß er schon wieder egoistisch war. Doch dann änderte sie ihre Meinung. Sie sah zwar eigentlich nicht ein, warum sie sich alleine um die Dinge kümmern sollte, die zu regeln waren, aber im Grunde genommen mußte Kim natürlich tatsächlich nur bei der Beerdigung und nicht bei den Vorbereitungen dabeisein. Außerdem mußte sie zugeben, daß sie im Augenblick vermutlich besser imstande war, diese Dinge zu regeln als er. »Ist dir egal, an welchem Tag die Beerdigung stattfindet?« fragte sie schließlich. »Oder welches Bestattungsinstitut wir beauftragen?«
»Ja«, erwiderte Kim. »Entscheide du. Wir machen, was du für richtig hältst.«
»Okay«, erklärte sie. »Aber du mußt mir versprechen, mich sofort anzurufen, wenn du zu Hause bist.«
»Versprochen«, entgegnete Kim. Bevor er ausstieg, griff er nach Tracys Unterarm und drückte ihn kurz. »Ich warte lieber noch einen Moment«, sagte Tracy. »Mal sehen, ob dein Auto anspringt.«
»Gute Idee«, entgegnete Kim. »Und vielen Dank.« Er schlug die Tür zu und winkte. Dann lief er zu seinem Wagen. Tracy winkte zurück und fragte sich, ob sie das Richtige tat.
Kim schloß die Autotür auf, stieg aber nicht sofort ein. Statt dessen warf er einen Blick auf das Schlachthofgebäude. Bei der Erinnerung an den vergangenen Abend jagte ihm ein kalter Schauer über den Rücken. Er durchlebte noch einmal die Horrorsituation, als er vor dem Mann mit dem Messer geflohen war. In seinem ganzen Leben würde er diese Schreckensmomente nicht vergessen können.
Für einen Augenblick überlegt er, ob er vielleicht den gerade diensttuenden Wachmann fragen sollte, wie er den Nachtwächter vom vergangenen Abend erreichen könnte. Doch dann kam er zu dem Schluß, daß Tracys Einwand nicht von der Hand zu weisen war. Wenn Curt schon die Polizei über Marshas Anwesenheit bei Higgins und Hancock belogen hatte, würde er ihm mit Sicherheit nicht die Wahrheit erzählen. Außerdem deutete diese wahrscheinliche Lüge darauf hin, daß noch viel mehr hinter der Sache steckte, als oberflächlich zu erkennen war. Sein Wagen sprang sofort an. Er winkte Tracy noch einmal zu.
Sie winkte zurück und fuhr los. Kim folgte ihr und dachte über das Gespräch nach, das sie gerade miteinander geführt hatten. So aberwitzig es sein mochte - er war nur knapp dem Tod entronnen, Becky war gestorben, und doch hatten die furchtbaren Ereignisse der vergangenen Tage bewirkt, daß er sich wieder mehr zu Tracy hingezogen fühlte; vielleicht fand er sie sogar anziehender denn je.
Auf der Autobahn trennten sich ihre Wege. Kim hupte und zog an ihr vorbei. Tracy hupte zurück und nahm die nächste Ausfahrt. Kim fuhr weiter in die Klinik. Sonntags war der Ärzteparkplatz beinahe leer, so daß er seinen Wagen in der Nähe des Haupteingangs abstellen konnte. Er beschloß, als erstes in den OP-Umkleideraum zu gehen. Er mußte sich dringend waschen, rasieren und umziehen.
Martha
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