Toxin
an ihm vorbei, ohne ihn eines Blickes zu würdigen, und reihte sich in die immer länger werdende Schlange ein. Kim war sich nun sicher, daß seine Verkleidung gelungen war.
Er hielt einen der Arbeiter an, den er zuvor beim Ausnehmen der Tiere beobachtet hatte. Sein feuchter, ehemals weißer Kittel war rot gesprenkelt. Kim fragte ihn nach dem Weg in den Keller. Der Mann starrte ihn an, als hätte er es mit einem Irren zu tun.
»Sprechen Sie Englisch?« fragte Kim vorsichtshalber nach.
»Natürlich spreche ich Englisch«, sagte der Mann.
»Ich will in den Keller«, erklärte Kim. »Wissen Sie, wie ich da hinkomme?«
»In den Keller geht niemand freiwillig«, entgegnete der Mann. »Aber wenn Sie unbedingt wollen, müssen Sie durch die Tür da drüben gehen.« Er zeigte auf eine nicht markierte Tür, an deren oberer Kante eine automatische Schließvorrichtung angebracht war.
Kim fegte weiter, bis der letzte Arbeiter die Feuertür passiert hatte. Nach all dem Lärm und der hektischen Betriebsamkeit kam es ihm jetzt ziemlich komisch vor, mit vierzig oder fünfzig dampfenden Rinderrümpfen allein zu sein. Zum ersten Mal seit seiner Ankunft war der Bereich, in dem die Tiere ausgenommen wurden, frei von Blut.
Er stellte seinen Besen ab und steuerte auf die nicht gekennzeichnete Tür zu, die der Mann ihm gezeigt hatte. Mit einem kurzen Blick über die Schulter vergewisserte er sich, daß man ihn nicht beobachtete. Dann zog er die Tür auf und huschte hindurch. Eine Sekunde später fiel sie hinter ihm zu. Das erste, was er wahrnahm, war der Gestank. Er war zehnmal schlimmer als im Schlachtbereich. Hier kam noch ein ekelerregender Verwesungsgestank dazu. Er würgte ein paarmal, mußte sich aber nicht übergeben. Vermutlich war sein Magen leer. Er stand auf einem Treppenabsatz. Eine Zementtreppe führte hinunter in die Dunkelheit. Über seinem Kopf befand sich eine einzelne, nackte Glühbirne. An der Wand hinter sich entdeckte er einen Feuerlöscher und eine überdimensional große Taschenlampe für Notfälle.
Er riß die Taschenlampe aus der Halterung, knipste sie an und richtete den gebündelten Strahl in die Tiefe. Die Treppe war lang und führte in einen tiefliegenden Keller. Die Wände waren mit großen, braunen Flecken übersät. Der Kellerboden sah auf die Entfernung glatt und schwarz aus - wie eine Rohöllache.
Er zog einen Gummihandschuh aus und suchte den Kopfhörer. Dann entfernte er einen Ohrstöpsel und stopfte sich den Kopfhörer ins Ohr.
»Kannst du mich hören, Tracy?« fragte er. »Wenn ja, sag bitte etwas. Ich habe den Kopfhörer drin.«
»Das wurde aber auch langsam Zeit«, entgegnete Tracy gereizt. Obwohl Kim von dicken Betonmauern umgeben war, war ihre Stimme laut und deutlich zu hören. »Komm schleunigst da raus!«
»Warum regst du dich denn so auf?« fragte Kim. »Du bist zusammen mit einem Killer im Schlachthaus«, ereiferte sich Tracy. »Der Mann hat schon zweimal versucht, dich umzubringen. Du bist wohl verrückt! Ich will, daß du sofort aufhörst mit diesem Wahnsinn!«
»Ich muß noch etwas herausfinden«, entgegnete Kim. »Außerdem hat der Kerl mich nicht wiedererkannt. Es gibt also keinen Grund zur Beunruhigung.«
»Wo bist du jetzt?« wollte Tracy wissen. »Warum hast du erst jetzt deinen Kopfhörer im Ohr? Es macht mich wahnsinnig, daß ich nie mit dir sprechen kann.«
Kim ging langsam die Treppe hinunter. »Wenn ich nicht allein bin, geht es nicht«, stellte er klar. »Es wäre zu gefährlich. Im Augenblick gehe ich eine Treppe hinunter, die in den Keller führt - ein Vergnügen ist das nicht, das kann ich dir sagen. Ich komme mir vor, als würde ich in den untersten Bereich der Hölle hinabsteigen. Hier unten stinkt es unbeschreiblich.«
»Ich glaube, du solltest lieber nicht in den Keller gehen«, entgegnete Tracy. »Auch wenn ich es gut finde, mit dir reden zu können - es ist sicherer, wenn du in einer Gruppe bleibst. Außerdem hast du da unten wahrscheinlich nichts zu suchen. Wenn dich jemand erwischt, kriegst du bestimmt Ärger.«
»Im Moment ist Mittagspause«, erklärte Kim. »Deshalb mache ich mir darum keine Sorgen.«
Um so wenig wie möglich von dem Gestank mitzukriegen, atmete er durch den Mund. Er hatte das untere Ende der Treppe erreicht und leuchtete mit der Taschenlampe in den riesigen, stockfinsteren Raum. Vor ihm befand sich ein Labyrinth aus Bottichen und schuttcontainerähnlichen Behältern; von jedem führte ein Rohr durch die Decke nach oben, durch das
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