Toxin
gewünscht hätte. Unbeabsichtigt streifte er mit seinem Blick eine etwa Vierzehnjährige, die in der Warteschlange vor den Telefonen stand. Ihr Lippenstift war so dunkelrot, daß er schon fast braun wirkte. Sie hatte ihn so dick aufgetragen, als wolle sie die Nordwand des Mount Everest besteigen und müsse sich vor der sengenden Sonne schützen. Das Mädchen merkte, daß er sie anstarrte. Sie unterbrach für einen Moment ihr kuhartiges Kaugummikauen und streckte ihm die Zunge heraus. Er stieß sich von der Wand ab und flüchtete auf die Männertoilette, wo er sich ein wenig Wasser ins Gesicht spritzte und sich die Hände wusch.
In der Küche und im Servicebereich bei Onion Ring herrschte die gleiche Hektik und Geschäftigkeit wie in einem gut besuchten Restaurant. Es war eine Art kontrolliertes Chaos. Freitags und samstags war bei Onion Ring immer Hochbetrieb. An diesen Tagen arbeitete Roger Polo, der Manager des Restaurants, immer zwei Schichten hintereinander. Er war ein nervöser Mann Ende Dreißig und verlangte seinen Untergebenen genausoviel ab wie sich selbst.
Wenn im Restaurant soviel los war wie jetzt, als Kim und Becky auf ihr Essen warteten, kümmerte Roger sich um die Weiterleitung der Bestellungen. Er orderte bei Paul, dem Schnellkoch, Burger und Pommes und gab Suppen- und Salatbestellungen an Julia weiter, die an der Warmhalteplatte und an der Salattheke arbeitete; für Getränke war Claudia verantwortlich. Seit einer Woche gab es noch den Laufburschen Skip, der die Vorräte wieder auffüllte und für anfallende Routinearbeiten wie Saubermachen oder Aufräumen zuständig war.
»Nummer siebenundzwanzig!« brüllte Roger. »Eine Suppe und einen Salat!«
»Dazu Eistee und Vanilleshake!« fügte er hinzu. »Kommt sofort!« rief Claudia zurück.
»Außerdem einen normalen Burger und eine mittlere Portion Pommes«, orderte Roger weiter. »Verstanden!« rief Paul.
Paul war erheblich älter als Roger. Er hatte ein tief zerfurchtes Gesicht, das einen eher an einen Farmer als einen Koch denken ließ. Er hatte zwanzig Jahre als Schnellkoch auf einer Ölbohrinsel im Golf gearbeitet. Auf seinem rechten Unterarm prangten eine tätowierte Ölquelle und der Schriftzug: Eureka! Paul stand am Grill, der sich mitten im Raum hinter der Kassenreihe befand. Er hatte ständig eine größere Menge von Hamburgern auf dem Rost; jeder gehörte zu einer Bestellung. Er grillte die Hamburger nach einem Rotationsprinzip, damit alle gleich lang auf dem Rost blieben. Als Roger ihm die neuesten Bestellungen zurief, drehte er sich um und öffnete den brusthohen Kühlschrank hinter sich.
»Skip!« brüllte er, als er sah, daß die Fleischbox leer war. »Hol mir mal schnell eine Hamburger-Box aus dem Gefrierraum.« Skip stellte seinen Schrubber beiseite. »Schon unterwegs.« Der Gefrierraum befand sich am hinteren Ende der Küche, direkt neben dem Kühlraum und gegenüber dem Vorratslager. Skip öffnete die schwere Tür zum Gefrierraum und ging hinein. An der Tür war eine starke Sprungfeder befestigt, so daß sie von allein hinter ihm zufiel. Der Raum war etwa drei mal sieben Meter groß und wurde von einer einzigen Glühbirne erhellt. Die Wände waren mit einem Material beschichtet, das wie Alufolie aussah. Der Fußboden war aus Holz. Bis auf den Mittelgang war der Raum von oben bis unten mit Pappkartons vollgestopft. Auf der linken Seite lagerten die großen Kartons mit gefrorenen Fleischbällchen. Auf der rechten Seite befanden sich Kisten mit gefrorenen Pommes frites, Fischfilets und Hähnchenteilen.
Skip rieb sich die Arme, um sich aufzuwärmen. Da die Temperatur im Gefrierraum unter null Grad lag, erzeugte sein Atem kleine Dampfwolken. Er wollte so schnell wie möglich zurück in die warme Küche. Um sicherzugehen, daß es sich auch wirklich um Gehacktes handelte, kratzte er den Frost von dem ersten Karton auf der linken Seite. Auf dem Etikett stand:
Mercer Meats, reguläre Hamburger à 50 Gramm,
Extra mager, Partie Nummer 6, Sendung 9-14,
Hergestellt am 12. Januar, verwendbar bis zum 12. April
Zufrieden riß er den Karton auf und nahm eine der Boxen mit fünfzehn Dutzend Fleischbällchen heraus. Dann ging er zurück und legte sie in den Kühlschrank hinter Pauls Arbeitsfläche. »Du kannst weiterbrutzeln«, erklärte Skip. Paul sagte nichts. Er war viel zu sehr damit beschäftigt, die gebratenen Hamburger zwischen die Brötchenhälften zu legen und die neuen Bestellungen, die Roger ihm gerade zugerufen hatte, im
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