Toxin
Kim. »Vielen Dank.«
Er ging ein Stück am Tresen entlang, bis er genau in der Mitte stand. Dann hob er die Hand und rief: »Entschuldigen Sie bitte! Hallo!«
Niemand kümmerte sich um ihn.
Er sah sich noch ein paar Sekunden hilfesuchend um und versuchte mit einem der Pfleger Augenkontakt aufzunehmen. Doch keiner von ihnen schenkte ihm Beachtung. Daraufhin schnappte er sich ein metallenes Ablagekörbchen, hielt es einen Augenblick über seinen Kopf und wartete, ob ihn jetzt vielleicht jemand wahrnahm. Doch er wurde auch weiterhin ignoriert.
Völlig außer sich schmetterte er das Metallkörbchen erst einmal und dann noch zwei weitere Male mit voller Wucht auf den Tresen. Bei jedem Mal haute er kräftiger zu, bis das Körbchen so verbogen war, daß es einem dreidimensionalen Parallelogramm glich.
Mit seinem Wutanfall zog er die Aufmerksamkeit aller Versammelten schlagartig auf sich. Gespräche brachen mitten im Satz ab, die Ärzte, Schwestern und Pfleger starrten ihn fassungslos an. Ein Mann vom Sicherheitsdienst, der in der Nähe der Fahrstühle gestanden hatte, kam angelaufen. Während er rannte, preßte er eine Hand gegen den dicken, an seinem Gürtel befestigten Schlüsselbund.
Da Kim vor Wut außer sich war, zitterte seine Stimme ein wenig. »Ich weiß, daß Sie alle viel zu tun haben«, rief er. »Auch wenn Sie im Augenblick nicht gerade einen besonders gestreßten Eindruck machen. Ich bin mit meiner kranken Tochter hier und warte jetzt seit zweieinhalb Stunden. Dabei könnte ich meine Zeit durchaus sinnvoller nutzen. Ich bin nämlich selber Facharzt.«
»Entschuldigen Sie bitte«, sagte der Mann vom Sicherheitsdienst und packte ihn am Arm.
Kim riß sich los und drehte sich zu ihm um. »Wagen Sie es nicht, mich noch einmal anzufassen!« fuhr er ihn an. Der Mann wich klugerweise einen Schritt zurück und griff nach seinem Funkgerät. Kim war nicht nur fast einen Kopf größer als er, er war auch deutlich kräftiger.
»Sparen Sie sich die Mühe, Unterstützung herbeizuholen!« Kim zog seine Krankenhauskennkarte aus der Tasche und hielt sie dem Mann vors Gesicht. »Ich arbeite hier, obwohl das in der Notaufnahme offenbar niemand wahrhaben will.« Blinzelnd entzifferte der Uniformierte die Kennkarte. »Tut mir leid, Doktor«, entschuldigte er sich dann. »Ist schon gut«, entgegnete Kim mit beherrschter Stimme. Inzwischen war Monica Hoskins wieder hinter dem Tresen aufgetaucht.
»Ich möchte mit Dr. Washington sprechen«, sagte Kim. »Es tut mir leid, daß Sie warten mußten«, versuchte Monica ihn zu beschwichtigen. »Wir tun alle unser Bestes.«
»Ich möchte trotzdem mit dem diensthabenden Arzt sprechen«, insistierte Kim.
»Dr. Washington kümmert sich gerade um einen Pneumothorax«, erklärte Molly.
»Ich möchte ihn jetzt sprechen!« wiederholte Kim gelassen.
»Es wird ja wohl irgendeinen Assistenzarzt geben, der einen Pneumothorax behandeln kann.«
»Einen Augenblick bitte«, sagte Monica und trat ein paar Schritte zurück, um sich außerhalb von Kims Hörweite mit Molly zu beraten. Nach einer knappen Minute kam sie zurück zu Kim. Gleichzeitig griff eine der Schwestern im Hintergrund zum Telefon.
»Es wird sofort jemand da sein, mit dem Sie sich unterhalten können«, erklärte Monica.
»Das wurde auch langsam Zeit«, entgegnete Kim. Sein kleiner Ausbruch hatte die plaudernden Angestellten soweit aus der Ruhe gebracht, daß die meisten von ihnen den Arbeitsplatz der Schwestern verließen und in die eigentliche Notaufnahme verschwanden. Monica nahm das Ablagekörbchen und versuchte es vergeblich wieder in seine ursprüngliche Form zu bringen.
Kims Herz jagte vor Aufregung, als hinter ihm plötzlich ein kleiner Tumult ausbrach. Er drehte sich um und sah ein schluchzendes Mädchen, das von einigen Sanitätern durch den Raum geleitet wurde. Ihre Handgelenke waren mit blutigen Geschirrtüchern umwickelt - ein eindeutiger Selbstmordversuch. Für Kim war klar, daß es sich um einen verzweifelten Hilfeschrei der jungen Frau handelte.
Nachdem die Verletzte hinter einer Tür verschwunden war, starrte er erneut erwartungsvoll ins Innere der Notaufnahme. Er ging davon aus, daß der leitende Arzt jeden Augenblick aufkreuzen mußte. Statt dessen tippte ihm jemand von hinten auf die Schulter.
Er drehte sich um und war überrascht, Tracy zu sehen. »Wo ist Becky?« fragte er.
»Auf der Toilette«, erwiderte Tracy. »Ich muß gleich wieder zu ihr zurück. Ich wollte dich nur bitten, nicht wieder einen
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