Toxin
»Ja«, erwiderte Dr. Morgan. »Außerdem liegen mir bereits einige Laborwerte vor.«
»Und?« fragte Kim ungeduldig.
»Ich komme zu dem gleichen Schluß wie Dr. Faraday«, erklärte Dr. Morgan. »Ihre Tochter hat eine bakterielle Lebensmittelvergiftung.«
»Es scheint ihr schlechter zu gehen«, stellte Kim fest.
»Das sehe ich genauso«, fügte Tracy hinzu. »Die Veränderung zwischen gestern abend und jetzt ist ganz eindeutig. Sie scheint gar nicht mehr sie selbst zu sein. Sonst ist sie immer so lebendig und aufgeweckt.«
Dr. Morgan sah voller Unbehagen im Beckys Richtung. Erleichtert stellte sie fest, daß das Mädchen die Unterhaltung nicht mitverfolgte. Trotzdem schlug sie vor, das Gespräch im Flur weiterzuführen.
»Da ich sie zum ersten Mal sehe, kann ich dazu nichts sagen«, erklärte sie dann. »In den Aufzeichnungen der Schwestern steht nichts von einer Verschlechterung ihres Zustands.«
»Ich möchte, daß sie intensiver überwacht wird«, erklärte Kim. »Wie wär’s, wenn Sie sie in eines der Isolierzimmer auf der Intensivstation verlegen?«
»Ich bin nur als externe Spezialistin hinzugezogen worden«, wandte Dr. Morgan ein. »Offiziell ist Dr. Stevens, die von AmeriCare bestellte Kinderärztin, für Becky zuständig.«
»Und wie wär’s, wenn Sie Dr. Stevens davon überzeugen würden, daß meine Tochter auf der Intensivstation besser aufgehoben ist?« schlug Kim vor. »Als ich ihr das gestern abend vorgeschlagen habe, hatte ich den Eindruck, sie richtet sich vor allem nach AmeriCare und scheut die Extrakosten.«
»Das paßt eigentlich nicht zu Dr. Stevens«, entgegnete Dr. Morgan. »Aber um ehrlich zu sein - ich finde auch nicht, daß Ihre Tochter auf die Intensivstation gehört. Zumindest noch nicht.«
»Eine äußerst ermutigende Aussage«, fuhr Kim sie an. »Mit anderen Worten gehen Sie also davon aus, daß sich ihr Zustand noch weiter verschlechtern wird, und trotzdem sitzen Sie alle nur herum und tun nichts.«
»Das ist sehr unfair, Dr. Reggis«, entgegnete Dr. Morgan beleidigt.
»Ist es nicht, Dr. Morgan«, raunzte Kim. Er betonte ihren Namen abfälliger, als er es eigentlich meinte. »Nicht aus meiner Sicht. Als Chirurg stelle ich eine Diagnose, dann schneide ich meinen Patienten auf und behebe den Schaden. Mit anderen Worten: Ich tue etwas, wohingegen ich im Augenblick das unerträgliche Gefühl habe, daß es meiner Tochter zusehends schlechter geht und niemand etwas unternimmt.«
»Hör auf, Kim!« flehte Tracy. Sie war den Tränen nahe. Die Sorge um Becky machte ihr schon genug zu schaffen. Auf Kims Streitsucht konnte sie in dieser Situation gut verzichten.
»Womit soll ich aufhören?« giftete Kim.
»Mit der Zankerei«, brachte Tracy hervor. »Deine ständige Streiterei mit den Ärzten und Schwestern bringt uns doch nicht weiter. Und mir raubst du damit noch den letzten Nerv.« Er starrte Tracy an. Daß sie ihn so schonungslos attackierte, wo es doch um Becky ging, konnte er kaum fassen. »Kommen Sie bitte mit mir mit, Dr. Reggis!« forderte Dr. Morgan ihn plötzlich auf und bedeutete ihm durch ein Handzeichen, ihr ins Schwesternzimmer zu folgen. »Geh schon!« ermutigte ihn Tracy. »Gib dir einen Ruck!« Während Tracy zurück in Beckys Zimmer ging, lief er hinter der davonstürmenden Ärztin her und holte sie ein. Sie hatte die Lippen zusammengepreßt und legte mit ihren relativ kurzen Beinen ein erstaunliches Tempo vor. »Wohin gehen wir?« fragte Kim.
»In den Sichtraum hinter dem Schwesternzimmer«, erwiderte Dr. Morgan. »Ich will Ihnen etwas zeigen. Außerdem denke ich, daß wir ein Gespräch unter vier Augen führen sollten - unter Kollegen sozusagen.«
Im Schwesternzimmer herrschte hektische Betriebsamkeit. Während die Frühschicht sich auf den Feierabend vorbereitete, traten die Schwestern und Pfleger der Spätschicht ihren Dienst an. Dr. Morgan schlängelte sich behende durch die Menschenansammlung, hielt Kim die Tür zum Sichtraum auf und gab ihm durch einen Wink zu verstehen, daß er eintreten solle.
Nachdem sie die Tür geschlossen hatte, war von dem Stimmengewirr fast nichts mehr zu hören. Der Sichtraum war eine fensterlose Kammer mit mehreren Arbeitsflächen und einer Sichtwand für Röntgenaufnahmen. In einer Ecke stand die Kaffeemaschine. Wortlos zog Dr. Morgan einige Röntgenaufnahmen aus den Hüllen und klemmte sie an der Sichtwand fest. Dann knipste sie das Licht an. Der Bauch eines Kindes wurde sichtbar.
»Sind das die Aufnahmen von Becky?«
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