Toxin
der Abbau noch deutlicher zu erkennen. Er ist nicht gerade unerheblich. Deshalb fürchte ich, daß im schlimmsten Fall ein HUS eintreten könnte.«
»HUS?« fragte Kim. »Was, zum Teufel, soll ich denn darunter verstehen?«
»HUS steht für hämolytisch-urämisches Syndrom«, erwiderte Dr. Morgan. Es wird mit den shigella-ähnlichen Toxinen assoziiert, die E. coli O157:H7 zu bilden imstande sind. Sie müssen sich das so vorstellen: Diese Art Toxin kann eine intravaskuläre Thrombozytengerinnung und eine Zerstörung der roten Blutkörperchen hervorrufen. Und das wiederum kann zu multiplem Organversagen führen. Am häufigsten sind die Nieren betroffen, daher die Bezeichnung urämisches Syndrom.« Kim fiel vor Entsetzen die Kinnlade herunter. Für einen Augenblick starrte er die Fachärztin sprachlos an und hoffte, daß sie ihn plötzlich anlächeln und sagen würde, sie habe nur einen schlechten Witz gemacht. Doch sein Wunsch ging nicht in Erfüllung.
»Glauben Sie, Becky hat dieses Syndrom?« fragte er ruhig, obwohl er völlig durcheinander war.
»Sagen wir so«, begann Dr. Morgan ausweichend und überlegte, wie sie ihre Worte abmildern konnte. »Ich befürchte es. Aber ich habe noch keinen Beweis. Im Augenblick sagt mir nur meine klinische Intuition, daß wir es mit dem HUS zu tun haben.«
Kim mußte schlucken. Sein Mund war auf einmal vollkommen ausgetrocknet.
»Und was können wir jetzt tun?« brachte er hervor.
»Leider nicht viel«, erwiderte Dr. Morgan. »Das Labor ist dabei, die Probe auf das Toxin zu untersuchen. Währenddessen schlage ich vor, einen Hämatologen und einen Nephrologen hinzuzuziehen. Ich halte es nicht für verfrüht, schon jetzt ihre Meinungen einzuholen.«
»Ja, am besten sofort!« platzte Kim heraus.
»Nicht so voreilig, Dr. Reggis«, mahnte Dr. Morgan. »Vergessen Sie nicht, daß ich nur eine Fachärztin von außerhalb bin. Die Hinzuziehung weiterer Spezialisten muß von Dr. Stevens beantragt werden. AmeriCare schreibt ganz klar vor, daß nur sie entscheidet, ob ein solcher Antrag gestellt wird oder nicht.«
»Dann rufen wir sie eben an«, ereiferte sich Kim. »Wir müssen doch etwas tun.«
»Sie wollen, daß ich sie jetzt auf der Stelle anrufe?« fragte Dr. Morgan.
»Unbedingt«, erwiderte Kim und schob ihr das Telefon hin. Während Dr. Morgan telefonierte, legte er den Kopf in seine aufgestützten Hände. Er hatte plötzlich solche Angst, daß alle Kraft aus seinem Körper wich. Der anfangs lästige, aber harmlos erscheinende Durchfall entpuppte sich zusehends als ein Drama. Aus Patientensicht einem schweren medizinischen Problem gegenüberzustehen, war für ihn eine gänzlich neue Erfahrung, und er wußte nicht recht, wie er damit umgehen sollte. Doch das mußte er lernen, und zwar schnell. Sein Hirn arbeitete auf Hochtouren. Was konnte er tun? »Dr. Stevens ist einverstanden«, verkündete Dr. Morgan und legte den Hörer auf. »Sie können von Glück sagen, daß sie Ihre Tochter betreut. Wir haben nämlich schon bei früheren HUS-Fällen zusammengearbeitet.«
»Wann wird Becky von den Fachärzten untersucht?« drängte Kim.
»Dr. Stevens kümmert sich bestimmt so schnell wie möglich um die Termine«, erwiderte Dr. Morgan.
»Ich will, daß sie sofort untersucht wird!« verlangte Kim. »Noch heute nachmittag.«
»Beruhigen Sie sich, Dr. Reggis! Ich habe Sie in diesen Raum mitgenommen, damit wir uns in Ruhe unterhalten können, von Kollege zu Kollege.«
»Ich kann mich aber nicht beruhigen«, gestand Kim und seufzte laut. »Wie oft haben Sie mit diesem Syndrom zu tun?«
»In letzter Zeit immer häufiger«, erwiderte Dr. Morgan. »Normalerweise wird es durch E. coli O157:H7 verursacht, und davon gibt es im Jahr etwa zwanzigtausend Fälle. Immerhin tritt das Syndrom so oft auf, daß es zur Zeit die häufigste Ursache von Nierenversagen bei Kindern ist.«
»Ach du meine Güte!« stöhnte Kim und kratzte sich nervös am Kopf. »Zwanzigtausend Fälle im Jahr!«
»Das ist jedenfalls die Schätzung des Gesundheitsamts für Erkrankungen durch E. coli O157:H7«, erklärte Dr. Morgan. »HUS tritt aber nur bei einem kleinen Prozentsatz dieser Fälle ein.«
»Kann das Syndrom auch tödlich sein?« zwang Kim sich zu fragen.
»Glauben Sie wirklich, darüber sollten wir jetzt reden?« erwiderte Dr. Morgan. »Vergessen Sie nicht - wir haben E. coli noch gar nicht definitiv diagnostiziert. Ich wollte Sie nur darauf vorbereiten, daß wir es eventuell mit diesem Erregerstamm zu tun
Weitere Kostenlose Bücher