Toxin
angekommen, fand er Becky unverändert vor. Im Schlaf wirkte sie täuschend friedlich. Tracy hatte sich mit einer Krankenhausdecke zugedeckt und es sich auf ihrem Stuhl so bequem wie möglich gemacht; sie schlief ebenfalls tief und fest.
Im Schwesternzimmer stieß Kim auf Janet Emery, die gerade dabei war, die Patientenakten auf den neuesten Stand zu bringen.
»Tut mir leid, daß ich Sie gestern nacht so angefahren habe«, entschuldigte sich Kim. Er ließ sich schwerfällig auf dem Stuhl neben Janet nieder und zog Beckys Akte aus dem Fach.
»Ich hab’ es nicht persönlich genommen«, entgegnete Janet. »Ich weiß, wie stressig es für Eltern ist, wenn ihr Kind im Krankenhaus liegt. Mein Sohn lag auch schon mal in der Klinik, deshalb weiß ich, wovon ich spreche.«
»Wie ist es Becky heute nacht ergangen?« fragte Kim. »Gibt es irgend etwas, das ich wissen sollte?«
»Ihr Zustand ist stabil«, erwiderte Janet. »Vor allem ist ihre Temperatur normal.«
»Gott sei Dank«, seufzte Kim. Beim Durchforsten von Beckys Akte stieß er auf den Operationsbericht, den Dr. O’Donnel am Vorabend diktiert hatte. Er las ihn aufmerksam, erfuhr allerdings nichts, was er nicht bereits wußte. Da er nichts weiter tun konnte, fuhr er in seine Praxis und machte sich daran, den Berg von Papierkram abzuarbeiten, der sich inzwischen angesammelt hatte. Dabei behielt er ständig die Uhr im Auge. Als er meinte, daß es auch unter Berücksichtigung des Zeitunterschieds an der Ostküste spät genug war, rief er George Turner an.
Dr. Turner zeigte viel Mitgefühl, als Kim ihm von der Perforation und der darauffolgenden Operation erzählte. Kim bedankte sich und kam schnell auf sein eigentliches Anliegen zu sprechen: Er wollte den Kinderarzt fragen, was seiner Meinung nach zu tun war, wenn die Diagnose definitiv HUS als Folge einer Infektion mit E. coli O157:H7 lauten würde. Außerdem wollte er von Dr. Turner wissen, ob Becky in diesem Fall nicht besser in ein anderes Krankenhaus verlegt werden sollte.
»Davon würde ich abraten«, erklärte Dr. Turner. »Dr. Stevens und Dr. Morgan bilden zusammen ein exzellentes Team. Die beiden haben viel Erfahrung mit diesem Syndrom. Jedenfalls mindestens genausoviel wie sonst irgendjemand.«
»Haben Sie auch schon HUS-Fälle gehabt?« fragte Kim.
»Nur einen einzigen«, erwiderte Dr. Turner.
»Ist das Syndrom wirklich so schlimm, wie es beschrieben wird?« wollte Kim wissen. »Ich habe alles gelesen, was ich finden konnte. Sogar im Internet habe ich recherchiert. Aber viel habe ich nicht entdeckt.«
»Der Fall, mit dem ich zu tun hatte, ist mir ganz schön an die Nieren gegangen«, gestand Dr. Turner.
»Könnten Sie mir vielleicht ein bißchen mehr darüber erzählen?« bat Kim.
»Dieses Syndrom ist erbarmungslos und unberechenbar«, erklärte Dr. Turner. »Hoffentlich kommt bei der Untersuchung heraus, daß Becky etwas anderes hat.«
»Könnten Sie nicht ein bißchen konkreter werden«, bat Kim. »Lieber nicht«, erwiderte Dr. Turner. »Es ist ein proteisches Syndrom. Selbst wenn es bei Becky diagnostiziert würde, würde die Krankheit bei ihr vermutlich ganz anders verlaufen als in dem Fall, mit dem ich es zu tun hatte. Es war jedenfalls ziemlich deprimierend.«
Nach ein paar Minuten beendete Kim das Gespräch. Bevor er auflegte, mußte er Dr. Turner versprechen, ihn über Beckys Zustand auf dem laufenden zu halten.
Danach rief er im Schwesternzimmer der Station an, auf der Becky lag. Er hatte Janet am Apparat und fragte, ob Tracy noch da sei.
»Ja«, erwiderte Janet. »Inzwischen ist sie auch aufgewacht. Ich habe sie zum letzten Mal gesehen, als ich Beckys Temperatur und Blutdruck gemessen habe.«
»Könnten Sie sie vielleicht ans Telefon holen?« bat Kim.
»Kein Problem«, entgegnete Janet bereitwillig. Während er wartete, grübelte Kim über Dr. Turners Worte nach. Seine Erklärung, das Syndrom sei »erbarmungslos und unberechenbar«, gefiel ihm gar nicht, und ebensowenig, daß sein Fall »deprimierend« gewesen sei. Kim mußte an seinen Alptraum denken und spürte, wie ihm der Schweiß ausbrach.
»Bist du’s, Kim?« fragte Tracy.
Sie unterhielten sich kurz darüber, wie sie die vergangenen fünf Stunden verbracht hatten. Tracy hatte ebenfalls schlecht geschlafen. Dann kamen sie auf Becky zu sprechen. »Offenbar geht es ihr ein bißchen besser als gestern abend«, sagte Tracy. »Sie kommt mir klarer vor. Ich glaube, sie hat die Restwirkung der Narkose jetzt ausgeschlafen.
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