Toxin
entgegnete Kim. »Betrachten Sie mich als gewarnt.« Dr. Biddles Mund verzerrte sich zu einer grimmigen, lippenlosen Linie. »Sie können wirklich unausstehlich sein!« fuhr er Kim an. »Glauben Sie bloß nicht, daß Sie ein Anrecht auf Sonderbehandlung genießen, weil Sie im Samaritan die Herzchirurgie geleitet haben.«
»Das ist offensichtlich«, entgegnete Kim. Er warf das Papierhandtuch in den Mülleimer und verließ den Raum, ohne Dr. Biddle eines weiteren Blickes zu würdigen. Um seinem Vorgesetzten nicht noch einmal in die Arme zu laufen, telefonierte er aus einer der Diktierkabinen. Er teilte Ginger mit, daß er nicht mehr in die Praxis kommen werde. Sie hatte schon damit gerechnet und bereits alle Patienten nach Hause geschickt.
»Hat sich jemand aufgeregt?« fragte Kim. »Was für eine Frage«, entgegnete Ginger. »Natürlich haben sie sich aufgeregt. Aber nachdem ich ihnen erklärt habe, daß du dich um einen Notfall kümmern mußt, waren sie besänftigt. Du hast doch hoffentlich nichts dagegen, daß ich ihnen von deiner Tochter erzählt habe? Damit habe ich ihnen sofort den Wind aus den Segeln genommen.«
»Ist schon in Ordnung«, erwiderte Kim, obwohl er sein Privat- und Berufsleben eigentlich gern voneinander trennte. »Wie geht es Becky?« fragte Ginger.
Kim erzählte ihr, was passiert war und daß Becky gerade operiert wurde.
»Sie tut mir so leid«, entgegnete Ginger. »Kann ich irgend etwas tun?«
»Mir fällt nichts ein«, seufzte Kim.
»Ruf mich später an!« bat sie ihn. »Nach meinem Aerobic-Kurs bin ich zu Hause.«
»Okay«, versprach Kim und legte auf.
Wie er sich kannte, wußte er nur zu gut, daß er nicht untätig herumsitzen und warten konnte, während Becky operiert wurde. Deshalb ging er in die Krankenhausbibliothek. Er wollte soviel wie möglich über den gefährlichen Erreger E. coli O157:H7 und über das HUS erfahren.
Kim warf einen Blick auf die Uhr. Es war beinahe Mitternacht. Dann sah er wieder Becky an und bekam eine Gänsehaut. Ihr Gesicht war von einem durchsichtigen Plastikschlauch verunstaltet, der sich aus einem ihrer Nasenlöcher schlängelte und den Schleim absaugte. Ihr dunkles Haar umrahmte in weichen Locken ihr engelhaftes, blasses Gesicht. Tracy hatte ihr beinahe eine Stunde lang die Haare gekämmt. Becky hatte das wie immer genossen und war dabei schließlich tief und fest eingeschlafen. Im Augenblick wirkte sie wie die Ruhe selbst.
Kim stand neben ihrem Bett. Genau wie am frühen Morgen tauchte das Nachtlicht unter der Decke den Raum in ein angenehmes Schummerlicht. Er fühlte sich körperlich und seelisch ausgelaugt.
Tracy hatte sich auf der anderen Seite des Bettes auf einem der beiden mit Vinyl bezogenen Stühle zurückgelehnt und die Augen geschlossen, doch Kim wußte, daß sie nicht schlief. Die Tür ging leise auf, und Janet Emery, die korpulente Nachtschwester, schlich in den Raum. Ihr dauergewelltes, blondes Haar glänzte in dem gedämpften Licht. Sie sagte kein Wort und stellte sich gegenüber von Kim neben das Bett. Ihre Schuhe hatten weiche Kreppsohlen, so daß ihre Schritte keinerlei Geräusch verursachten. Mit Hilfe einer kleinen Taschenlampe maß sie Beckys Blutdruck und Temperatur und fühlte ihren Puls. Becky bewegte sich einmal kurz, schlief aber weiter.
»Es ist alles okay«, flüsterte Janet. Kim nickte.
»Vielleicht sollten Sie besser nach Hause gehen«, schlug Janet vor. »Ich passe schon gut auf Ihren kleinen Engel auf.«
»Danke«, erwiderte Kim. »Aber ich bleibe lieber hier.«
»Ich glaube, ein bißchen Schlaf könnte Ihnen nicht schaden«, fügte Janet hinzu. »Sie hatten einen langen Tag.«
»Kümmern Sie sich um Ihre eigenen Angelegenheiten!« grummelte Kim.
»Das tue ich ohne Zweifel«, entgegnete Janet freundlich. Sie ging zur Tür und verschwand so leise, wie sie gekommen war. Tracy öffnete die Augen und sah Kim an. Der Streß hatte ihm deutlich zugesetzt. Sein Haar war zerwühlt, auf seinen Wangen sprießten Bartstoppeln. Das Dämmerlicht ließ seine Augenhöhlen wie dunkle Krater erscheinen.
»Kim!« wandte sie sich an ihren Ex-Mann. »Kannst du dich nicht mal ein bißchen beherrschen? Du hilfst doch niemandem, wenn du jetzt auch noch die Schwester anpöbelst.« Sie wartete auf eine Reaktion, doch es kam keine. Kim stand da wie eine moderne Skulptur, die Angst und Schrecken verkörpern sollte.
Tracy seufzte und streckte sich. »Was macht Becky?«
»Im Moment ist ihr Zustand stabil«, erwiderte Kim. »Durch die
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